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Der Gesundheit-Check

„So geht Vertrauen in die Politik verloren“

Fassungslosigkeit statt „Freedom Day“: Der Gesundheitsexperte Frank Rudolph zieht eine ernüchternde Bilanz des Pandemiejahres 2021. Die Politik habe Ratschläge von Experten nicht oder viel zu spät befolgt, sagt der Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) im Interview. Die neue Regierung könne und müsse daraus Lehren ziehen. Denn Corona werde uns noch jahrelang begleiten.

 Der Experte für Gesundheitspolitik Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG).


Hand aufs Herz, Frank Rudolph: Blicken Sie noch durch bei der deutschen Corona-Politik? Da verkündet der frischgebackene Bundeskanzler das Ziel, dass bis Jahresende 30 Millionen Menschen geboostert sein sollen. Und keine zwei Wochen später ist die Rede von einem absehbaren Impfstoff-Mangel.

Ganz ehrlich, ich bin schockiert und fassungslos. Was unsere Politiker jetzt gerade wieder geboten haben, ist an Dilettantismus kaum noch zu überbieten. Erst hören wir, es gebe Impfstoff in Hülle und Fülle. Dann gibt es plötzlich angeblich nicht mehr genug für das erste Quartal 2022. Es seien halt geplante Lieferungen auf Dezember vorgezogen worden, hört man zur Begründung aus dem Gesundheitsministerium. Wie will man denn eine Impfpflicht erlassen, wenn es gar nicht genügend Impfstoff gibt? Da fragen sich vermutlich nicht wenige Bürgerinnen und Bürger, ob da vielleicht einer lügt - und wenn ja, wer.

Laufend wird etwas verkündet, was gefühlt fünf Minuten später wieder einkassiert wird. Da heißt es zum Beispiel, in Nordrhein-Westfalen soll bereits vier Wochen nach der Zweitimpfung geboostert werden. Und kurz darauf: Nein, das soll nur die Ausnahme sein. So geht Vertrauen in die Politik verloren. Leider hat sich dieser Hick-Hack-Kurs durch das ganze zweite Corona-Jahr gezogen. Auch das hat dazu beigetragen, dass 2021 erneut zu einem Annus horribilis wurde.

Ein „Freedom Day“ war uns in Aussicht gestellt werden. Stattdessen herrscht zum Jahresende bei vielen Fassungslosigkeit. Wie konnte es so weit kommen, was ist falsch gelaufen?
Es gab Anfang des Jahres wohl eine gehörige Portion Blauäugigkeit. Aber zugleich gab es doch für die Politik durchaus auch die Möglichkeit, über den sprichwörtlichen Tellerrand hinauszuschauen. In Israel, wo man in Sachen Impfungen uns gegenüber etwa ein halbes Jahr Vorsprung hatte, passierte im April genau das, was im Herbst auch bei uns geschah: ein exponentieller Anstieg der Inzidenzen. Im Juni haben die Verantwortlichen in Israel gesagt, die Impfwirkung lasse nach, Booster seien unbedingt erforderlich. Bei uns hat sich anscheinend keiner ernsthaft darum gekümmert. Die Politik war komplett im Wahlkampfmodus, da wurde den Leuten nach dem Maul geredet. Und das Wort Corona wurde nach Möglichkeit vermieden. Ganz nach dem Motto „Bloß keine schlechten Nachrichten mitten im Wahlkampf“. Das traf auf Politiker aller Parteien zu. Und dann kam – sorry für die Ironie – eine sensationelle Erkenntnis: Im Herbst wird es kalt draußen und deshalb sitzen die Leute meist drinnen.

Noch Ende Oktober haben uns FDP-Politiker wie der damalige Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, erklärt, dass die epidemische Lage von nationaler Tragweite beendet werden müsse und wir nun einen „Freedom Day“ brauchen. Drei Wochen später hieß es, man müsse sich auch mal korrigieren dürfen. Klar, das muss erlaubt sein. Aber es ist höchst bedenklich, wenn das innerhalb so kurzer Zeit nötig wurde und wenn Warnungen so gut wie aller Virologen vor einer Situation ignoriert wurden, wie wir sie jetzt haben.

Das heißt also, die Politiker sind zwar von den Experten richtig beraten worden, haben Ratschläge jedoch ignoriert?
Für mich stellt sich das klar so dar, dass ernstzunehmende Ratschläge ignoriert wurden, damit der Wahlkampf nicht gestört wird. Das war Ignoranz und Arroganz der Macht in einem. Ganz nach dem Motto: „Par ordre du mufti schieben wir Corona mal zur Seite.“ Wir sind permanent hinter den Corona-Wellen hergelaufen. Wir waren bislang nicht einmal in der Lage, vor eine Welle zu kommen. Und zwar, weil immer wieder elementare Fehler gemacht wurden. Ob es um die Beschaffung von Masken und Schutzkleidung ging oder um die Beschaffung von Impfstoff, die Einrichtung von Impfzentren oder die Übergabe der Impfung an die Hausärzte – die meisten politischen Entscheidungen waren Reaktionen anstelle von vorausschauenden Maßnahmen.

Der neue Bundesgesundheitsminister will nach eigenem Bekunden die Einschätzung von Fachleuten stärker berücksichtigen. Ist Karl Lauterbach mit dem Expertenrat, den er berufen hat, auf dem richtigen Weg?
Er will offenbar, dass die notwendigen Entscheidungen stärker wissenschaftlich fundiert sind. Das ist sinnvoll. Gut ist auch, dass in diesem Beraterstab nicht nur zwei, drei Virologen vertreten sind, von denen man annehmen kann, dass sie im Grunde dieselbe Linie vertreten. Es zeugt von Souveränität und Weitsicht, dass der Minister zum Beispiel auch Professor Hendrik Streeck von der Uniklinik Bonn in dieses Gremium aufgenommen hat, der in der Vergangenheit nicht immer mit Lauterbach und auch nicht mit dem Chefvirologen der Berliner Charité, Christian Drosten, einer Meinung war. Streeck ist weltweit anerkannt. Dass Lauterbach auf seinen Rat trotz möglicherweise unterschiedlicher Auffassungen nicht verzichten will, zeugt von menschlicher Größe.

Zum Rückblick auf die Gesundheitspolitik im Jahr 2021 gehört auch, dass im Wahlkampf von Sozialdemokraten und Grünen kräftig für eine Einheitskrankenkasse, die sogenannte Bürgerversicherung, getrommelt wurde. Im Koalitionsvertrag der Ampel kommt die aber nicht vor, sondern es bleibt beim dualen System von gesetzlichen und privaten Krankenkassen. Könnte das auch an der Erkenntnis liegen, dass sich das bestehende System in der Pandemie bewährt hat?
Es war tatsächlich nicht zu übersehen, dass dieses System funktioniert hat. Bei allen Fehlern – die nicht vom Gesundheitswesen, sondern von der Politik zu verantworten sind – hat sich unser duales System als robust, widerstandsfähig und verlässlich erwiesen. Das zeigt auch der internationale Vergleich. Das war sicherlich ein starkes Argument für die FDP in den Koalitionsverhandlungen, von Experimenten mit einer Bürgerversicherung in der jetzigen Situation abzuraten. Warum soll man ein im Kern funktionierendes System jetzt von den Füßen auf den Kopf stellen? Wesentlich sinnvoller ist es, das bestehende System weiterzuentwickeln. Es gilt, viele Probleme zu lösen. Darunter der Mangel an Pflegekräften. Aber eine Bürgerversicherung würde ein solches strukturelles Problem nicht lösen. Dafür ist vor allem mehr Geld erforderlich, damit eine bessere Entlohnung und bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen gewährleistet werden können.

Die Bewältigung der Pandemie war und ist mit erheblichen zusätzlichen Ausgaben verbunden, die den Kostendruck im Gesundheitswesen noch weiter ansteigen lassen. Ist das alles noch mit dem bisherigen System der Finanzierung zu leisten?
Das Problem ist, dass kein Politiker den Schneid hat, klar zu sagen, dass wir endlich auch mal die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung erhöhen müssten. Es gibt den medizinischen Fortschritt, es gibt bessere Operationsmethoden und es gibt neue Medizintechnik wie hocheffektive MRT-Geräte. Da kommen viele Millionen, ja Milliarden zusammen. Doch während die private Krankenversicherung von Jahr zu Jahr teurer wurde, ist die gesetzliche künstlich stabil gehalten worden. Dafür wurde der Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds der gesetzlichen Krankenkassen permanent mit dem Geld der Steuerzahler erhöht.

Im zurückliegenden Jahr hat der Bundestag sogar beschlossen, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen 2022 noch eine zusätzliche Milliardenhilfe und damit dann insgesamt 28,5 Milliarden Euro erhalten - sieben Milliarden Euro mehr als eigentlich vorgesehen. Angesichts dessen ist die Argumentation absurd, Privatversicherte würden sich nicht an den Gesundheitskosten beteiligen. Tatsächlich zahlen sie doppelt - einmal für ihre private Krankenversicherung und über ihre Steuern sind sie auch noch an der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung beteiligt.

Corona hat auch im Pandemiejahr 2021 einige Kollateralschäden mit sich gebracht. Das Thema Krankenhausreform zum Beispiel scheint dazu zu gehören – oder hat sich da etwas getan?
Das ist von der Bildfläche verschwunden. Damit hat sich kaum noch jemand beschäftigt. Es gab einige Vorschläge, aber das ist alles in der Pandemie untergegangen. Aber viel schlimmer ist natürlich, dass aufgrund der pandemiebedingten starken Auslastung der Intensivstationen sehr viele planbare Operationen verschoben werden mussten. Zudem sind wohl selbst eine Reihe von Herzinfarkten nicht oder erst spät behandelt worden, weil Patienten trotz eindeutiger Symptome nicht gleich ins Krankenhaus gegangen sind. Krebstherapien wurden verschoben, weil es einfach keine Kapazitäten mehr gab.

Täuscht der Eindruck oder sind auch Digitalisierungsvorhaben auf der Strecke geblieben?
Leider ist das so. Denken wir nur mal an die elektronische Patientenakte (ePA), die seit Anfang 2021 für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen angeboten werden muss. Hört man davon etwas? Zum 1. Juli waren alle Ärzte, Physiotherapeuten und Zahnärzte zudem verpflichtet, sich an die ePA anzubinden und die Technologie zu unterstützen. Doch laut Angaben der Gematik GmbH, die mehrheitlich dem Bund gehört und für den Aufbau eines sicheren Gesundheitsdatennetzes verantwortlich ist, nutzten mit Stand September gerade mal rund 250 000 Versicherte in Deutschland die ePA. Offenbar wissen nur wenige Patienten, dass es so etwas überhaupt gibt. Auch das E-Rezept ist trotz eines entsprechenden Gesetzes von der Tagesordnung verschwunden und gehört in gewisser Weise mit zu den Kollateralschäden der Pandemie.

Nach diesem insgesamt ernüchternden Rückblick auf 2021, drängt sich die Frage nach Ihren Hoffnungen für das Jahr 2022 geradezu auf.
Corona wird uns leider noch jahrelang begleiten. Da sollten wir realistisch sein. Für 2022 wünsche ich mir, dass wir die Pandemie so stark eindämmen können, dass im Interesse der Patientinnen und Patienten in den Krankenhäusern wieder eine gewisse Normalität einkehrt. Das heißt, dass alle planbare Operationen auch termingerecht durchgeführt werden können. Ich wünsche mir auch, dass die Beschäftigten in den Krankenhäusern mal wieder zum Luft holen kommen und sich auch mal erholen können. Und ich wünsche mir, dass die Pflegerinnen und Pfleger endlich die finanzielle Wertschätzung erfahren, die sie verdienen. Ich hoffe, dass der neue Gesundheitsminister dieses Problem entschlossen anpackt. Und natürlich wünsche ich mir, dass die Digitalisierung mit Projekten wie dem E-Rezept und der elektronische Patientenakte schneller vorankommt.

Zur Person: Frank Rudolph ist mit dem deutschen Gesundheitswesen - seinen Vorzügen wie seinen Problemen - bestens vertraut. Die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen, insbesondere das Verhältnis von Kosten und Nutzen in der medizinischen Versorgung, sind Dauerthemen für den Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit. Der 1960 in Essen geborene Betriebswirt war von 2007 bis 2013 Mitglied der Bundeskommission Gesundheit und ist bis heute Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Seit 2007 ist Frank Rudolph 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW.

https://www.bvvg-ev.de/start
http://www.nawrocki-pr.de

 

 
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