zum Hauptinhalt
ANZEIGE
Gesundheitspolitische Themen

“Beim Corona-Derby der Teams Vorsicht und Risiko

sind die Zuschauer die Verlierer”


Die Sommerwelle rollt, der nächste Corona-Herbst steht vor der Tür. Doch die Ampelkoalition übe sich weiter im Debattieren und Lamentieren, kritisiert der Experte Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) im Interview. Er plädiert für rasche und klare Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, denn im Herbst könne es dafür längst zu spät sein.

 Der Experte für Gesundheitspolitik Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG).


Geimpft, geboostert und doch infiziert. Inzwischen wissen Sie, Herr Rudolph, aus eigener Erfahrung, wie sich das anfühlt. War das bei Ihnen auch nur eine Art „Sommerschnupfen“?
Ich will das hier nicht in Einzelheiten schildern. Nur so viel: Es fühlte sich eher wie eine schwere Grippe an. Ich weiß natürlich, dass andere nach wenigen Tagen damit durch waren. Aber ich habe auch von Bekannten gehört, die - wie ich - mit heftigen Symptomen flachlagen, die sie gern gegen einen Schnupfen eingetauscht hätten. Aber unabhängig von dieser persönlichen Erfahrung: Dass manche Politiker so tun, als sei eine Corona-Infektion kaum noch der Rede wert, halte ich für unverantwortlich. Es ist schlimm und sogar gefährlich, dass es wenige Wochen vor dem Herbstbeginn in der Regierung immer noch keine konkrete Einigung auf die Art und den Umfang von Schutzmaßnahmen zur Eindämmung einer möglicherweise schweren neuen Welle der Pandemie gibt.

Aber gibt es nicht längst Anzeichen, die auf Entwarnung schließen lassen? Die Infektionszahlen stagnieren seit Wochen. Rund 90.000 im Tagesdurchschnitt, die Sommerwelle scheint kleiner als die im Frühjahr zu sein…
Das ist Augenauswischerei. Die offiziellen Zahlen spiegeln das wahre Infektionsgeschehen gar nicht wider. Tatsächlich gibt es wohl mindestens doppelt so viele Infektionen, wenn nicht noch mehr. Das zeigen die Abwasseranalysen der Stadt Köln. Bekanntlich ist das Coronavirus in Fäkalien gut nachweisbar. Entsprechende Analysen in anderen Städten kämen sicher zu ähnlichen Ergebnissen. Anderswo in Europa ist so etwas längst Standard bei der Erstellung von Prognosen über neue Corona-Schübe. Bei uns hingegen machen sich manche noch Illusionen über die tatsächliche Inzidenz.

Nun hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach einen “Pandemie-Radar” samt Ausbau der Abwasser-Überwachung angekündigt...
Besser spät als nie. Aber man könnte ja auch mal Vorreiter statt Nachahmer sein. Abgesehen davon: Eine Ankündigung ist längst noch kein Vollzug.

Woran liegt es denn, dass die Dunkelziffer so hoch ist? Kommen die Gesundheitsämter mit der Erfassung nicht hinterher? Wird zu wenig getestet?
Da legen Sie den Finger in die Wunde. Die Gesundheitsämter machen schon seit einem Jahr keine Nachverfolgung mehr. Die Zahl der PCR-Tests ist deutlich zurückgegangen. Die der sogenannten Bürgertests auch, seit man dafür drei Euro bezahlen muss. Durch weniger Sequenzierungen ist auch weniger deutlich, welche Virusvariante gerade überhandgenommen hat.

Was wir erleben sind also im wesentlichen Scheindebatten, die auf Annahmen und Vermutungen beruhen. Was im Herbst tatsächlich auf uns zukommt, weiß niemand. Ich kann verstehen, wenn die Leute sich sagen: Im Grunde genommen weiß die Regierung nix. Aber sie wollen natürlich trotzdem endlich erfahren, mit welchen Maßnahmen sie für den Herbst rechnen müssen. Ganz zu schweigen von den Unternehmen, von den Verkehrsbetrieben, vom Handel, von der Gastronomie und vor allem den Schulen.

Derweil verhandeln das SPD-geführte Gesundheitsministerium und das FDP-geführte Justizministerium darüber, wie es nach dem Auslaufen des Infektionsschutzgesetzes am 23. September weitergehen soll. Haben Sie den Eindruck, dass den Koalitionären ein großer Wurf gelingen wird?
Dafür sehe ich keine Anzeichen. Im Gegenteil. Was da offiziell als Verhandlungen bezeichnet wird, nennen andere Streit. Der “Spiegel” sprach gar von “Chaos in der Koalition”. Karl Lauterbach gibt sich als der große Mahner, als “Vorsitzender von Team Vorsicht” und fordert entschlossene Schritte zur Abwehr der nächsten Welle. Wir sehen auch, wie gerade in Spanien und Portugal die Infektionszahlen nahezu explodieren. Und wir wissen, dass das Virus vor Grenzen nicht Halt macht. Derweil macht die FDP auf Abwarten und teils sogar auf Entwarnung. Andrew Ullmann, der gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, twitterte: “Manchmal wünsche ich mir mehr Gelassenheit und weniger Panik oder Emotionen bei den Diskussionen um Maßnahmen in der Endphase der Pandemie.”

Was schließen Sie daraus?
Wenn wir nun die “Endphase der Pandemie” erleben, ist doch die Frage angebracht, wieso wir dann überhaupt noch einen Plan für den Winter brauchen. Wir haben in beiden Lagern promovierte Mediziner - Lauterbach und Ullmann -, und dennoch liegen sie bei ihren Einschätzungen und Forderungen weit auseinander. Kein Wunder, dass es keinen konkreten Maßnahmenplan gibt, den man dem Bundestag noch vor der Sommerpause hätte vorlegen können. Diese Verhandlungen sehen eher aus wie ein Endlosstreit. Oder wie ein Fußballspiel mit ständigen Verlängerungen sowie etlichen gelben und roten Karten.

Und wer wird gewinnen?
Absehbar ist wohl nur dies: Beim Corona-Derby der Teams Vorsicht und Risiko sind die Zuschauer am Spielfeldrand die großen Verlierer. Das Nachsehen hat die Bevölkerung, die völlig zu Recht von ihrer Regierung erwartet, so effektiv wie irgend möglich vor Corona geschützt zu werden. Stattdessen wächst die Verunsicherung von Tag zu Tag, weil ständig irgendetwas anderes erzählt wird.

Könnte der Mangel an aussagekräftigen Studien über den tatsächlichen Corona-Verlauf hier bei uns in Deutschland ein Grund für die recht unterschiedlichen Ansätze sein?
Durchaus, denn bislang verweist Karl Lauterbach bekanntlich vor allem auf ausländische Studien, die nur bedingt Aussagekraft für die Lage bei uns haben. Wir wissen viel zu wenig darüber, wie sich das Infektionsgeschehen hier in Deutschland entwickelt. Bislang hat es dazu lediglich eine wirklich brauchbare Untersuchung gegeben, die Heinsberg-Studie des Bonner Virologen Professor Hendrik Streeck im Auftrag der NRW-Landesregierung. Da wurde - vor inzwischen mehr als zwei Jahren - genau aufgezeigt, wie sich die Leute in der Heinsberger Gemeinde Gangelt infiziert hatten, wie haben sie sich isoliert und wie sich das Virus in den einzelnen Familien ausgebreitet hat. Leider wurde diese wertvolle Studie zerrissen, am Ende hat sich kaum noch jemand getraut, so etwas zu machen. Da darf man sich doch nicht wundern, wenn wir bis heute nicht genügend Daten zur Prognostizierung des Corona-Geschehens haben.

Sie haben immer wieder gefordert, dass bei uns große Corona-Studien in Auftrag gegeben werden. Nun hat das FDP-geführte Bundesforschungsministerium eine repräsentative Studie unter Leitung von Hendrik Streeck angekündigt, um den Grad der Immunität gegen Sars-CoV-2 in der Bevölkerung zu messen und um festzustellen, bei welchen Gruppen die Impflücken besonders groß sind. Sind Sie damit zufrieden?
Das ist gut und wichtig. Endlich, mehr als zwei Jahre nach der Heinsberg-Studie. Ich fürchte nur, dass die erhofften Erkenntnisse zu spät kommen werden. Die Ergebnisse sollen im September vorliegen, doch die Weichenstellungen für konkrete Maßnahmen müssten jetzt erfolgen. Die Bundesländer rufen jetzt danach und viele wollen härtere Maßnahmen. Doch was tatsächlich geschehen müsste, wie sich das Infektionsgeschehen voraussichtlich entwickeln wird, ob es wieder eine Maskenpflicht geben muss, eventuell gar ein Lockdown - da fliegen Meinungen hin und her, ohne dass wir eine hinreichende wissenschaftliche Basis haben.

Und der inzwischen vorliegende Evaluierungsbericht des Expertenrats zu den bisherigen Corona-Maßnahmen hilft auch nicht weiter? Dieser lang erwartete Bericht hat sich doch im Wesentlichen als viel heiße Luft erwiesen. Er kann jedenfalls nur sehr bedingt Hilfe für zu beschließende Maßnahmen bieten. Das kann man den Verfassern gar nicht anlasten. Sie stellen der Corona-Politik und dem Robert-Koch-Institut kein gutes Zeugnis aus. Aber konkrete Empfehlungen sind rar. Der Grund ist die bereits erwähnte mangelnde Datenlage. Die Koalition hatte sich auf Drängen der FDP darauf geeinigt, erstmal diesen Bericht abzuwarten. Das war offenbar eine weitere Zeitverschwendung. Und nun erleben wir ein politisches Sommertheater, auf das - wenn wir nicht verdammt viel Glück haben - im Winter eine Corona-Tragödie folgen könnte.

Einige Maßnahmen bereitet das Bundesgesundheitsministerium bekanntlich schon vor. Dazu gehört, dass sich Krankenhäuser bis Mitte September komplett einem digitalen Meldesystem angeschlossen haben sollen, das tagesaktuelle Überblick über Corona-Kranke und Bettenkapazitäten liefert. Und in den Pflegeheimen soll es Impfbeauftragte geben. Sind das nicht vernünftige Schritte?
Wünschenswert mag das sein, aber es ist kaum machbar und insofern nur graue Theorie. Der anhaltende Personalmangel und erhebliche Kapazitätsengpässe machen derartige Vorstellungen zur Illusion. Wir haben gerade einen mehrwöchigen Streik der Mitarbeiter an den NRW-Universitätskliniken hinter uns. Dabei ging es vor allem um die Forderung, die Arbeitssituation zu verbessern. Es fehlt überall Personal, die Arbeitsbelastung hat enorm zugenommen. Und da soll den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zusätzlich Arbeit aufgebürdet werden? Und das sollen die alles bis zum Herbst hinbekommen?

Seit 2020 haben wir mehr als 150.000 verschobene Krebsoperationen. Das BMG soll sich doch bitte mal vorrangig um die Behandlung der Kranken kümmern. Die darf man bei allen Corona-Maßnahmen, die am grünen Tisch wünschenswert erscheinen, nicht vergessen. Das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit sollte man nicht aus den Augen lassen.

Geplant ist auch eine weitere Impfkampagne. Eingekauft wurden oder werden vier verschiedene Impfstoffe, damit in jedem Fall der passende für die im Herbst dominierende Variante zur Verfügung steht. Das ist klingt doch sehr vernünftig oder sehen Sie das anders? Letzteres ist in der Tat vernünftig, selbst wenn es bedeutet, dass die dann nicht benötigten Impfstoffe verfallen werden. Das Geld muss man einfach aufwenden, denn es wäre fatal, auf nur einen oder zwei Impfstoffe zu setzen, die sich dann möglicherweise als die falschen erweisen. Eine neue millionenteure Impf-Werbekampagne dürfte aber wirkungslos verpuffen. Wer sich bis heute partout nicht impfen lassen wollte, der wird sich auch durch eine neue Impfkampagne nicht überzeugen lassen.

Hinzu kommt einmal mehr, dass das BMG offenbar unfähig ist, in Sachen Impfung eine klare und einheitliche Kommunikation zu gewährleisten. Es weiß doch mittlerweile jeder, dass eine Corona-Impfung weder vor einer Infektion schützt noch die Weitergabe des Virus verhindert. Dennoch suggeriert Lauterbach - gewollt oder ungewollt -, dass man “sorgenfrei” durch den Sommer kommt, wenn man sich bloß das vierte Mal impfen lässt. Am besten alle über 40. Der Stiko-Chef hingegen sieht keine ausreichende Datenlage dafür und widerspricht zunächst mal, nur um später halbwegs einzulenken. Das verwirrt selbst die Gutgläubigsten.

Dazu passt die erstaunliche Twitter-Äußerung von Karl Lauterbach, in der Impfungen praktisch als nebenwirkungsfrei dargestellt worden waren. Da haben Anwälte sofort Morgenluft gewittert, die Schadenersatz für Patienten durchsetzen wollen, die unter schweren Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen leiden. Was sagt das über die Kommunikation des Ministers?
Es sagt uns, dass sie immer noch erstaunlich amateurhaft ist, wenn nicht gar fahrlässig. Nach seiner Äußerung über angeblich nebenwirkungsfreie Impfungen hat Karl Lauterbach dann bekanntlich eine Kehrtwende vollzogen und in einem Twitter- Video eingeräumt, dass es natürlich Nebenwirkungen gibt, die auch schwer sein können. Es gibt kein Medikament ohne Nebenwirkungen, in langen Beipackzetteln wird jeweils darauf hingewiesen. Meist sind sie tolerierbar, aber sie sind auf keinen Fall wegzureden. Wenn ein Gesundheitsminister, der bekanntlich auch Arzt ist, das versucht, ist das gefährlich. Insofern kann ich gut verstehen, dass der Virologe Klaus Stöhr nahegelegt hat, Dr. Lauterbach die Approbation zu entziehen.

Zur Person: Frank Rudolph ist mit dem deutschen Gesundheitswesen - seinen Vorzügen wie seinen Problemen - bestens vertraut. Die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen, insbesondere das Verhältnis von Kosten und Nutzen in der medizinischen Versorgung, sind Dauerthemen für den Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit. Der 1960 in Essen geborene Betriebswirt war von 2007 bis 2013 Mitglied der Bundeskommission Gesundheit und ist bis heute Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Seit 2007 ist Frank Rudolph 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW.

https://www.bvvg-ev.de/start
http://www.nawrocki-pr.de

 

 

Artikel teilen