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Gesundheitspolitische Themen

“Wasser predigen, Wein trinken – so zerstört man Vertrauen“


Pflegenotstand, Arbeitsüberlastung in den Krankenhäusern, Stolperfallen für die Digitalisierung, ein enormer Reformstau und Streit um Corona-Maßnahmen - Deutschlands Gesundheitswesen kriselt vor sich, beklagt der Experte Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) im Interview. In so einer Lage sei es fatal, wenn Politiker auch noch durch unbedachtes Verhalten Vertrauen verspielen.

 Der Experte für Gesundheitspolitik Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG).

 

In Krankenhäusern häufen sich die Klagen von Beschäftigten über schlechte Arbeitsbedingungen. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) fordert umgehende Verbesserungen und verweist unter anderem auf eine Umfrage des Marburger Bundes, die extreme Belastungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kliniken aufgezeigt habe. Ist das übertrieben? Was hören Sie dazu von den BVVG-Partnern in den Krankenhäusern?

Das ist gewiss keine Übertreibung, die Lage ist vielerorts sehr ernst. Allerdings ist das auch nicht ganz neu. Das Pflegepersonal stand schon vor Jahren unter extremer Anspannung. Und das bei vergleichsweise schlechter Bezahlung. Nun kam noch die Corona-Pandemie hinzu. Damit wurde auch der Öffentlichkeit bewusst, dass viele Beschäftigte in der Pflege und anderen Bereichen der Krankenhäuser überlastet und unterbezahlt waren. Bei der Bezahlung hat sich inzwischen einiges getan, doch die Arbeitsbedingungen haben sich dadurch nicht unbedingt verbessert. Vor allem, weil es weiter an Personal mangelt. Das Problem besteht darin, dass man auf die Sorgen und Nöte der Beschäftigten in diesem Bereich erst reagiert hat, als es zu spät war. Da waren bereits viele ausgestiegen, weil sie einfach nicht mehr konnten, und hatten sich andere Jobs gesucht. Diese Menschen fehlen jetzt in den Krankenhäusern.

Bessere Vergütungen sind also kein Anreiz zur Rückkehr?

Offenkundig nicht, jedenfalls für zu wenige. Wie groß der Bedarf an Pflegekräften ist und wie wenige auf dem Arbeitsmarkt zu finden sind, sehen wir an den hohen Willkommensprämien für Pflegefachkräfte, die schon seit einiger Zeit angeboten werden. Manche sprechen von einer “Kopfgeldjagd”. Den Begriff will ich mir nicht zu eigen machen. Und natürlich gönne ich jedem und jeder eine nette Extravergütung, aber ein derartiger Konkurrenzkampf im Personalbereich kann keine tragfähige Lösung des Fachkräftemangels sein. Sicher, manche Kliniken und Pflegeheime, die finanziell besser dastehen, können mit Hilfe von Werbeprämien eine Reihe offener Stellen besetzen. Aber bei anderen wird das Problem dadurch womöglich noch größer. Das erinnert schon ein wenig an den Fußball, wo die reichsten Clubs sich die teuersten Spieler leisten können.

Um was für Summen geht es und wer führt diese “Pflegekräfte-Bundesliga” an?

Es sind nicht wenige Häuser, die so vorgehen. Namen möchte ich hier nicht nennen. Wie gesagt, ich habe durchaus Verständnis für die Probleme und die Suche nach kurzfristigen Lösungen. Das reicht von der Vergabe von Gutscheinen über einige Hundert Euro für eigene Mitarbeiter, wenn sie eine neue Pflegekraft vermitteln, bis hin zu Wechsel- beziehungsweise Willkommensprämien von 10.000 Euro, wenn diese Kräfte sich verpflichten, wenigstens 18 Monate zu bleiben. Diese Praxis ist natürlich nicht die Ursache des Pflegenotstands, sondern nur ein Symptom. Erschwerend kommt hinzu - und das beklagt der Marburger Bund völlig zu Recht -, dass auch im ärztlichen Bereich die Personalprobleme und damit einhergehend die Arbeitsbelastungen spürbar größer geworden sind, unter anderem durch Corona-bedingte Ausfälle. Insgesamt führt das dazu, dass nicht wenige Krankenhäuser Operationen verschieben müssen. Entweder weil es an Ärzten fehlt oder an Pflegepersonal, das die Patienten anschließend betreuen kann - oder auch an beidem. Und das in einer Situation, wo wir eigentlich viele während der Pandemie abgesagte Operationen nachholen müssten.

Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates (DPR), Christine Vogler, warnt vor einem Pflegenotstand. ”Viele Heime können bald niemanden mehr aufnehmen, weil die Pflegekräfte fehlen”, sagte sie der “Bild am Sonntag”. Ist das Alarmismus oder kommt da ein weiteres Riesenproblem auf uns zu?

Das ist kein Alarmismus, sondern Realismus. Christine Voglers Warnung ist gerechtfertigt. Wir wissen doch alle, dass in absehbarer Zeit immer mehr Menschen aus den geburtenstarken Jahrgängen - etwa von 1955 bis 1969 - in Rente gehen und nicht wenige von ihnen in absehbarer Zeit pflegebedürftig sein werden. Während sich Baby-Boomer langsam, aber sicher auf den Weg in Richtung Pflegeheim begeben, haben immer weniger junge Leute Interesse an einem Pflegeberuf. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Schlimm ist daran auch, dass das Problem schon vor langer Zeit absehbar war - es gab schon vor Jahren Studien, die das Fehlen Zehntausender von Pflegekräften prognostizierten - und die Politik nicht wirklich viel getan hat, um einem solchen Notstand entgegenzuwirken. Es werden immer noch nicht genügend Pflegekräfte ausgebildet. Die Lösung kann doch nicht sein, dass wir aus anderen Ländern geschultes Personal abwerben, das dann dort fehlt.

Sie haben immer wieder auf die Reformbedürftigkeit unseres Gesundheitswesens aufmerksam gemacht. Und Sie haben in Ihrer Tätigkeit Gesundheitsminister kommen und gehen sehen. Wie groß ist heute Ihre Hoffnung, dass sich die Politik zu einem großen Wurf aufschwingt und die Probleme - vom Fachkräftemangel über die steigenden Gesundheitskosten bis hin zum Schneckentempo der Digitalisierung - entschlossen und umfassend anpackt?

Also, wenn wir mal mit unserem aktuellen Gesundheitsminister anfangen, auf dem bekanntlich zum Anfang seiner Amtszeit große Hoffnungen ruhten, dann kann ich dem Stoßseufzer in einem kürzlich veröffentlichten “Spiegel”-Kommentar nur zustimmen: “Ach, wäre der Besserwisser doch ein Bessermacher!” Die Euphorie ist längst verflogen, Karl Lauterbach hat insgesamt enttäuscht, erst recht gemessen an den von ihm selbst verkündeten hohen Ansprüchen. Das stümperhafte neue Infektionsschutzgesetz dürfte jedem klargemacht haben, dass forsche Talkshow-Sprüche noch lange keine gute und praxistaugliche Politik sind. Herr Lauterbach mag wissenschaftliche Studien im Eiltempo lesen und dann seine Interpretationen in den sozialen Netzwerken verkünden können, doch zu einer alltagstauglichen Gesundheitspolitik hat ihm dieses Talent bislang nicht verholfen.

Haben seine Vorgänger es denn besser gemacht, haben sie Reformen wirklich vorangetrieben?

Man muss fair sein, Karl Lauterbach kann nicht für gesundheitspolitische Versäumnisse von Regierungen der zurückliegenden Jahre haftbar gemacht werden. Von 2009 bis 2013 wurde das Bundesgesundheitsministerium von zwei FDP-Politikern geführt - Phillipp Rösler und Daniel Bahr -, die auch nicht viel auf die Reihe bekommen haben. Jedenfalls gemessen an den wirklich großen Herausforderungen, die es auch damals schon gab. Das waren vier verlorene Jahre. Dann kam Hermann Gröhe von meiner Partei, der CDU. Da ging auch nicht gerade ein Ruck durchs Regiment. Als treuer und tadelloser Parteisoldat ist Hermann Gröhe von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf diesen Posten gesetzt worden, weil sie an der gesundheitspolitischen Front Ruhe haben wollte. Das hat er geschafft. Es gab keinen großen Ärger, aber auch keine großen Reformen. 

Und dann kam Jens Spahn, der Mann, der sah und siegte?

Letzteres zwar nicht, aber Jens Spahn hat immerhin viele gute Ideen mitgebracht. Und den festen Willen, das Gesundheitswesen auf gesunde Beine zu stellen und solide zu modernisieren. In seinen ersten Amtsjahren hat er ein Gesetz nach dem anderen auf den Weg gebracht. Da war zwar auch einiges dabei, das nicht so gut funktioniert hat. Aber er hat Dinge angepackt. Er hat versucht, etwas in Bewegung zu setzen. Dann kam Corona. Alles andere ist hinten runter gefallen. Anfangs ging es auch um enorme Notstandsmaßnahmen. Man kannte das Ausmaß der Gefahren nicht, es gab weder Tests noch Impfstoffe. Es wurden Fehler gemacht, es wurden Irrwege beschritten. Heute sind wir in einer ganz anderen Lage - nur dass Spahns Nachfolger offenkundig immer noch nicht aus dem Corona-Modus herausgefunden hat. Immer wieder warnt er vor der Apokalypse - tödliche Sommerwelle, Killerviren-Mutationen und so weiter. Das ist die Ersetzung politischer Führung durch Alarmismus. Auch deshalb steckt die deutsche Gesundheitspolitik in einem Dilemma.

Das machen Sie aber nicht allein an den umstrittenen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes fest?

Nein, die Probleme reichen viel weiter. Nehmen wir zum Beispiel das Debakel mit dem E-Rezept sowie mit der elektronischen Patientenakte, die mal wieder an kaum noch nachzuvollziehenden Datenschutzbedenken zu scheitern drohen. Seit das Projekt elektronische Patientenkarte unter der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD, von Januar 2001 bis Oktober 2009) in Angriff genommen wurde, sind Milliarden von Euro verbrannt worden. Die Idee war, dass alle relevanten medizinischen Daten der Versicherten auf einer digitalen Karte gespeichert werden, die von den jeweils behandelnden Ärzten im Sinne einer gut abgestimmten und passgenauen Therapie im Interesse der Patienten eingesehen werden können. Was ist daraus geworden? Eine Chipkarte mit Bild, Namen und Adresse. 15 Milliarden Euro weiter droht nun dem E-Rezept dasselbe Schicksal, weil es angeblich zu gefährlich ist, den dazu passenden QR-Code per E-Mail zu verschicken. Als ob nicht auch ein Rezept auf Papier gelegentlich in falsche Hände geraten oder verloren gehen könnte. Währenddessen werden wir in Sachen Digitalisierung des Gesundheitswesens von anderen Ländern überflügelt.

Sie vermitteln den Eindruck, dass über eine Reihe von Problemen im deutschen Gesundheitswesen nur diskutiert wird, ohne dass sich etwas bewegt. Ist das wirklich so?

Wie lange debattieren wir denn schon über einen Mangel an Pflegepersonal? Doch nicht erst seit Corona. Die Krankenhausreform: seit Jahrzehnten überfällig. Wobei da nun endlich mal dank des Engagements von Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) in Nordrhein-Westfalen etwas in Gang zu kommen scheint, das beispielhaft für die gesamte Bundesrepublik sein könnte. Wie viele Jahre wollen wir noch über die Digitalisierung reden, ehe sie endlich auf breiter Front angegangen wird? Wie lange wollen wir noch über den Ärztemangel auf dem Land diskutieren? Seit 20 Jahren machen wir das nun schon, ohne echte Lösungen. Der Frust wächst und die Politik schafft es tatsächlich immer wieder, da noch eins drauf zu geben und die Leute zu verärgern.

Denken Sie jetzt an die Schlagzeilen um den maskenfreien Kanada-Flug des Bundeskanzlers?

Ja, das ist das jüngste Beispiel. Da wird also wochenlang über ein neues Infektionsschutzgesetz diskutiert und am Ende wird uns wieder eine Maskenpflicht für den Herbst angedroht, nachdem wir seit einer gefühlten Ewigkeit maskiert in Bahnen, Bussen und Flugzeugen unterwegs sind. Aber der Kanzler und sein Wirtschaftsminister sowie die mit ihnen reisenden Journalisten lassen sich ganz unbekümmert im Flieger ohne Maske ablichten. Das war nicht nur ungeschickt. Es zeigt, dass Heinrich Heines satirisches Versepos “Deutschland. Ein Wintermärchen” brandaktuell ist. Wenn ich mal zitieren darf: “Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, ich kenn' auch die Herren Verfasser; ich weiß, sie tranken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser.” Das ist es, was wir leider allzu oft erleben - Politiker, die uns Wasser predigen, aber selbst Wein trinken. Das zerstört das Vertrauen der Bevölkerung in einer Zeit, da es mehr denn je gebraucht wird.

Aber die Luftwaffe erklärte doch, alle Reisenden an Bord der Regierungsmaschine hätten zuvor einen PCR-Test absolviert, Masken seien also überflüssig gewesen.

Das Argument ist nicht stichhaltig. Sie können einen negativen PCR-Test haben und schon wenige Stunden danach Viren mit sich herumschleppen. Auf den Webseiten der Lufthansa lese ich: “Ob geimpft, genesen oder getestet: Viele Regelungen, die in der Vergangenheit gültig waren, sind immer noch aktuell. Alle Personen müssen … weiterhin eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen.” Wir haben mit diesem “Flug der Demaskierten” wieder einmal ein Beispiel für die Arroganz der Macht erlebt. Da darf man sich nicht wundern, wenn zum Beispiel in der Hauptstadt Berlin immer mehr Menschen das Gebot ignorieren, in öffentlichen Verkehrsmitteln eine FFP2-Maske zu tragen.

Zur Person: Frank Rudolph ist mit dem deutschen Gesundheitswesen - seinen Vorzügen wie seinen Problemen - bestens vertraut. Die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen, insbesondere das Verhältnis von Kosten und Nutzen in der medizinischen Versorgung, sind Dauerthemen für den Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit. Der 1960 in Essen geborene Betriebswirt war von 2007 bis 2013 Mitglied der Bundeskommission Gesundheit und ist bis heute Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Seit 2007 ist Frank Rudolph 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW.


https://www.bvvg-ev.de/start/
https://www.nawrocki-pr.de/

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