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Gesundheitspolitische Themen

“Corona-Politik der Ampel ist wie Stochern im Nebel“


Man hört und staunt: Wird der Corona-Winter abgesagt? US-Präsident Joe Biden jedenfalls hat die Pandemie schon für “vorbei” erklärt. Das könne die Debatten in Deutschland über Sinn und Unsinn von Schutzmaßnahmen zusätzlich anheizen, meint der Experte Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) im Interview. Corona sei jedoch längst nicht die einzige Herausforderung, bei der die Ampelregierung keine gute Figur mache.

 Der Experte für Gesundheitspolitik Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG).

 

Das neue Infektionsschutzgesetz war heftig umstritten, doch letztlich hat auch der Bundesrat den Weg dafür frei gemacht. Ende gut, alles gut?

Gehen Sie doch mal auf die Straße und machen eine Umfrage unter Passanten. Fragen Sie Frauen und Männer, Jugendliche und Senioren: Was gilt gemäß dem neuen Infektionsschutzgesetz? Da werden Ihnen sehr viele Menschen sagen: Genau weiß ich das eigentlich nicht. Abgesehen von der Maskenpflicht im ÖPNV, während sie im Flieger nun nicht mehr gilt. Das haben die Leute sich gemerkt, aber mehr wohl kaum. Es herrscht eine weit verbreitete Ratlosigkeit.

Und wie kommt das?

Der Grund scheint mir klar zu sein: Einmal mehr haben wir im Prozess der politischen Entscheidungsfindung ein monatelanges “Hü und Hott” erlebt. Einmal mehr besteht das Ergebnis in gesundheitspolitischer Kleinstaaterei. Und einmal mehr gibt es in Sachen Corona-Bekämpfung einen Länder-Flickenteppich. Die Länder sollen es je nach Lage und Einschätzung richten. Und wenn etwas schiefgeht, können Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ihre Hände in Unschuld waschen - nach dem Motto “Wir waren es nicht, die Länder waren es.” Kein Wunder, dass die Kritik an dem Gesetz anhält.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) bemängelte, es fehlten konkrete Schwellenwerte, ab denen Maßnahmen ergriffen werden sollen. Karl Lauterbach erklärt hingegen, Schwellenwerte seien nicht mehr so wichtig, denn man schnüre künftig ein Gesamtpaket aus relevanten Informationen; Krankenhäuser würden alle benötigten Daten zur Beurteilung der Lage liefern. Wie sehen Sie das?

Ich kann jeden Ministerpräsidenten verstehen, dem es an klaren und einheitlichen Entscheidungskriterien für die Verhängung von Corona-Schutzmaßnahmen fehlt. Da muss man sich nicht wundern, wenn die Länder bei diesem Thema sehr zurückhaltend sind und vor allem sagen, was alles kaum oder gar nicht geht. Aber eines ist schon jetzt klar: Die Daten aus den Krankenhäusern, auf die der Gesundheitsminister verweist, sind eine Fata Morgana. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hat dazu prompt erklärt, die Krankenhäuser hätten aktuell keine Möglichkeit, die im Infektionsschutzgesetz vorgesehenen verpflichtenden Datenlieferungen vollständig zu erfüllen.

Bei den Hausärzten sieht das wohl nicht anders aus…

Eher noch schlimmer. Auf der Delegiertenkonferenz des Deutschen Hausärzteverbandes war kürzlich von einer „weiterhin katastrophalen Datenlage” hinsichtlich der Beurteilung der Pandemie die Rede. Bis heute sei die Erhebung, die Auswertung und die Kommunikation entsprechender Daten noch immer nicht sachgerecht und transparent organisiert worden.

Welche Folgen hat das, können Sie ein Beispiel nennen?

Von Hausärzten hören wir, dass die Datenlage für die Behandlung von Corona-Patienten mit dem Virus-Hemmer Paxlovid für die Situation erheblich zu wünschen übrig lässt. Natürlich liegt das auch daran, dass man entsprechende Daten aus Israel und anderen Ländern bezieht, wo die Rahmenbedingungen nicht unbedingt deckungsgleich mit denen bei uns sind. Eigentlich ist das bigott: Wir beziehen Daten von anderswo, weil man dort beim Thema Gesundheitsschutz der Bevölkerung eine andere Einstellung zum Stellenwert des Datenschutzes hat als bei uns. Wir haben in Deutschland nach beinahe drei Jahren Corona noch immer keine exakt für unsere Verhältnisse passende Datenlage für Entscheidungen über Einschränkungen. Mit anderen Worten: Die Corona-Politik der Ampel gleicht einem Stochern im Nebel.

Die Debatten über den Infektionsschutz und vermeintliche Verstöße treiben merkwürdige Blüten. War es wirklich verwerflich, dass sich einige Politiker beim Oktoberfest-Auftakt ohne Maske ablichten ließen, wie man in manchen Zeitungen lesen konnte?

Verwerflich war das sicher nicht, denn es gab dort ja keine Maskenpflicht. Aber ein Schlaglicht auf das Taktgefühl mancher Politiker gegenüber der Bevölkerung hat das meines Erachtens schon geworfen. Wenn Grünen-Chefin Ricarda Lang beim Anstich ohne Maske in die Kamera lacht, was sendet das dann für ein Signal? Auch Staatsministerin Claudia Roth (Grüne) und SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert feierten da offenbar ohne Problembewusstsein maskenlos mit. Da diskutieren wir wochenlang über verschärfte Maßnahmen ab Oktober - und wenige Tage davor, zeigen sich diese Politiker beim Massenereignis Oktoberfest ohne Maske.

Nichts Verbotenes, wie gesagt…

Richtig, aber was sagt uns das über die Moral von Politikern, die zu regierenden Parteien gehören? Welches Vorbild wird da vermittelt? Das ist doch wieder ein Beispiel dafür, wie manche politischen Führungskräfte Wasser predigen und selbst Wein trinken. Der Auftritt bei einer solchen Massenveranstaltung wäre eine Gelegenheit gewesen, ein Signal zu setzen, wenn man das denn gewollt hätte: Leute, wir gehen möglicherweise schweren Zeiten entgegen. Seid trotzdem fröhlich und feiert, aber schützt Euch und Eure Mitmenschen, gern auch freiwillig.

Der stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP und Vizepräsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Kubicki hat sich sogar in aller Öffentlichkeit lustig gemacht über die Corona-Politik der Ampel. Wie fanden Sie das?

Das war sicher kein Beispiel für vornehme Zurückhaltung. Wir wären jedoch falsch beraten, Kritik abzuweisen, nur weil sie nicht besonders diplomatisch daherkommt. Wenn Wolfgang Kubicki darauf hinweist, dass es in ganz Europa keine Masken- und keine Quarantänepflicht mehr gibt und einen “deutschen Sonderweg” geißelt, dann sollte man darüber ernsthaft diskutieren können. Leider löst bei uns Kritik, wenn sie nicht auf Samtpfoten daherkommt, oft eine Empörung aus, die mir gekünstelt vorkommt, um nicht zu sagen heuchlerisch. Abgesehen davon lassen Kubickis Äußerungen ahnen, wie innerlich zerstritten diese Regierungskoalition ist. Schließlich gehört seine Partei dazu. Da fragt man sich schon, wie lange die Ampel noch leuchten wird. Im Übrigen: Kubicki ist nicht der einzige, der meint, dass die Pandemie weitgehend überwunden ist und wir es inzwischen nur noch mit einer beherrschbaren epidemischen Lage zu tun haben.

Sie spielen auf Joe Biden an?

Richtig. Der US-Präsident hat die Corona-Pandemie quasi im Vorbeigehen für beendet erklärt, O-Ton Joe Biden: “Die Pandemie ist vorbei, aber wir haben immer noch ein Problem mit Covid.” Das wird man so von deutschen Politikern wohl vorerst nicht hören, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Aber Bidens Formulierung hat das Potenzial, die Debatten über Sinn und Unsinn der Corona-Maßnahmen in Deutschland wieder anzuheizen. Dann wird sich zeigen, wie es um die Akzeptanz von bestimmten Maßnahmen bestellt ist. Mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen dafür plädieren, einerseits den Schutz vulnerabler Bevölkerungsgruppen weiterhin sehr ernst zu nehmen, andererseits aber ein “Leben mit dem Virus” zu akzeptieren. Das heißt, dass es primär darum gehen soll, schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle zu vermeiden, aber nicht mehr darum, jede Infektion zu verhindern.

Kritik gibt es nicht nur am Infektionsschutzgesetz, sondern auch am dritten Entlastungspaket: Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Arztpraxen seien dabei nicht berücksichtigt worden, bemängelt etwa der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. Können Sie nachvollziehen, wieso das Gesundheitswesen offenbar gar nicht auf der Agenda stand?

Das ist völlig unverständlich und nicht akzeptabel. Man muss doch das Grundrecht auf medizinische Versorgung gewährleisten, erst recht in Zeiten einer Energiekrise, die gefährliche Folgen für die Gesundheit vieler Menschen nach sich ziehen könnte. Arztpraxen können im Winter nicht einfach dicht machen, weil sie die Gasrechnung nicht mehr bezahlen können oder die Räumlichkeiten nicht mehr ausreichend beheizt werden. Bei den Krankenhäusern sieht es so aus, dass manchen bei weiter steigenden Kosten die Insolvenz droht. Ein Krankenhaus mit rund 800 Betten hatte bisher im Jahr Energiekosten zwischen 800.000 und 900.000 Euro. Mittlerweile liegen die bei 2,4 Millionen Euro, das heißt also rund 1,5 Millionen Euro mehr. So viel Gewinn wirft kein einziges Krankenhaus in Deutschland ab. Inzwischen wird schon gewarnt, Krankenhäuser müssten anfangen, Personal zu entlassen, weil sie sonst die Energiekosten nicht mehr tragen können. Schnell Geld einzusparen geht fast nur über Personalkürzungen. Das wäre eine verheerende Abwärtsspirale. Denn wenn es an Personal fehlt, müssen Operationen und andere Behandlungen reduziert werden, wodurch wiederum Einnahmen wegbrechen. Und was sagt der darauf angesprochene Gesundheitsminister? Ja, da müsse man wohl noch etwas tun, da werde auch noch etwas kommen. Aber was und wann? Die Krankenhäuser stehen mit dem Rücken zur Wand, die müssen im nächsten Monat die höheren Abschläge für ihre Energieversorgung bezahlen und viele wissen nicht, wo sie das Geld dafür hernehmen sollen.

Sie scheinen den Eindruck zu haben, dass die derzeitige Bundesregierung mit der Bewältigung der enormen Probleme durch Corona und durch die Folgen der russischen Aggression gegen die Ukraine überfordert ist. Glauben Sie das wirklich?

Ja, das ist leider der Eindruck, der sich meines Erachtens aufdrängt - jedenfalls hinsichtlich der Auswirkungen auf das Gesundheitswesen. Wie kann man denn ein milliardenschweres Entlastungspaket zusammenstellen, ohne dabei die erheblichen Belastungen dieser Doppelkrise für die Krankenhäuser und Arztpraxen zu berücksichtigen? Wenn man die Situation einmal auf das normale Geschäftsleben übertragen würde, dann sähe das so aus: Der zuständige Geschäftsführer stünde kurz vor der Ablösung durch den Aufsichtsrat, weil er die Lage nicht mehr im Griff hat.

Es mangelt derzeit nicht an strittigen Vorhaben der Ampelregierung. Unzufriedenheit hat auch der Entwurf des Gesundheitsministers für das sogenannte Krankenhauspflegeentlastungsgesetz ausgelöst. Was stört die Kritiker daran, dass die Regierung den Bedarf an Pflegekräften in den nächsten Jahren genauer ermitteln will?

Das ist nicht der Punkt, gegen eine solide Bedarfsermittlung ist nichts zu sagen. Dass sich - zum Beispiel - die Zahl der Pflegenden auf einer Station künftig am tatsächlichen Pflegebedarf orientieren soll, ist gut und richtig. Das Problem sehen viele darin, dass Einzelheiten der Personalbemessung unter dem Genehmigungsvorbehalt des Bundesministeriums der Finanzen stehen soll - darunter die Anzahl der auf einer Station einzusetzenden Beschäftigten und die Zusammensetzung des Pflegepersonals entsprechend beruflicher Qualifikation. Da fragen sich Kritiker wohl nicht zu Unrecht, ob der Bundesfinanzminister künftig den Rotstift beim Pflegepersonal ansetzen kann, wenn die Haushaltslage eng wird. Ich kann jedenfalls nachvollziehen, wenn etwa der Katholische Krankenhausverband Deutschlands den Finanzierungsvorbehalt ein „fatales Zeichen“ nennt und warnt, dass eine Pflege nach Kassenlage “ein Angriff auf unser Solidarsystem“ sei.

Auf Unverständnis stößt auch eine Berechnung in dem Entwurf, wonach bis zum 1. Januar 2025 zusätzlich 5.000 Pflegekräfte eingestellt werden könnten. Teilen Sie die Sorge, dass diese Vorstellung an den Realitäten vorbeigeht?

Wer mit solchen Zahlen jongliert, blendet die Realität aus. Wir haben in Deutschland rund 1.900 Krankenhäuser. Wenn es 5.000 zusätzliche Pflegekräfte gibt, bedeutet das im statistischen Durchschnitt pro Krankenhaus 2,6 Pflegekräfte mehr. Das ist völlig unzureichend. Schlimm finde ich, dass man das im Gesundheitsministerium natürlich wissen dürfte und trotzdem mit Bedarfsberechnungen ins Kabinett geht, die weit von der Wirklichkeit entfernt sind. Die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes hatte im Juni Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, wonach allein in der Intensivpflege der Krankenhäuser bundesweit bis zu 50.000 Vollzeitkräfte fehlen. Völlig zu Recht hat der Leiter der Studie, der Gesundheitssystemforscher Professor Michael Simon, gewarnt, dass Unterbesetzung und Arbeitsüberlastung “eine Gefahr für die Gesundheit der Patienten und auch für die Gesundheit des Pflegepersonals auf Intensivstationen” darstellen. Ganz offensichtlich besteht dringender Handlungsbedarf, dem die derzeitige deutsche Gesundheitspolitik jedoch nicht gerecht wird.

Zur Person: Frank Rudolph ist mit dem deutschen Gesundheitswesen - seinen Vorzügen wie seinen Problemen - bestens vertraut. Die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen, insbesondere das Verhältnis von Kosten und Nutzen in der medizinischen Versorgung, sind Dauerthemen für den Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit. Der 1960 in Essen geborene Betriebswirt war von 2007 bis 2013 Mitglied der Bundeskommission Gesundheit und ist bis heute Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Seit 2007 ist Frank Rudolph 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW.


https://www.bvvg-ev.de/start/
https://www.nawrocki-pr.de/

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