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”Im Gesundheitswesen war das erste Ampel-Jahr ein Annus horribilis“


Wie steht das deutsche Gesundheitswesen nach einem Jahr Ampelkoalition da? Schlechter als 2021, aber möglicherweise immer noch besser als 2023, meint der Experte Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) im Interview. Er kritisiert vor allem das neue Gesetz zur Stabilisierung der GKV-Finanzen. Und er warnt vor Plänen zur weitgehenden “Ambulantisierung” von Operationen.

 Der Experte für Gesundheitspolitik Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG).


Seit Dezember 2021 wird Deutschland von einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP regiert. Wie schätzen Sie die Bilanz des ersten Ampel-Jahres in der Gesundheitspolitik ein?

Was wir in der Gesundheitspolitik im ersten Jahr der Ampelregierung erlebt haben, erinnert mich an die berühmte “Annus horribilis"-Rede der britischen Königin. Ende November 1992 prägte Elisabeth II. diesen Begriff im Rückblick auf ein Jahr voller Negativschlagzeilen für das Königshaus. Ein schreckliches Jahr, so kann man wohl auch die erste Jahresbilanz Ampelkoalition in der Gesundheitspolitik zusammenfassen. Das war - von Ausnahmen abgesehen - eher wie eine Abfolge von Pleiten, Pech und Pannen.

Immerhin hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine Reihe von Vorhaben präsentiert und kürzlich sein Gesetz zur Stabilisierung der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch den Bundestag gebracht. Er rechnet sich das als Erfolg an, aber das sehen Sie wohl anders?

Dass Karl Lauterbach sich lobt, sei ihm gegönnt. Welcher Politiker würde schon zugeben, dass er ein Jahr lang vor allem Mist gebaut hat? Wenn man aber in medias res geht und sich die Bilanz der Gesundheitspolitik der Ampelregierung genauer anschaut, muss man sich schon fragen: Wo sind denn die positiven Leistungen und Ergebnisse, die sich der Minister zugute hält? Da finden wir nämlich nichts. Selbst Lauterbachs große Ankündigung beim Amtsantritt, wonach es keine Leistungseinschränkungen bei der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung geben wird, ist mittlerweile durch das heftig umstrittene GKV-Gesetz gekippt worden. Ungeachtet aller Proteste von Ärzten und Patientenvertretern hat er die Neupatientenregelung gestrichen.

Inwiefern werden dadurch Leistungen eingeschränkt?

Die Regelung war eingeführt worden, um Praxen einen Anreiz zu bieten, neue Patienten aufzunehmen. Unter anderem sollten auf diese Weise Wartezeiten für Facharzt-Termine verkürzt werden. Das hat durchaus gut funktioniert. Die Streichung wird dazu führen, dass wieder weniger Termine zur Verfügung stehen, dass Patienten länger auf Behandlungen warten müssen oder auch weitere Wege in Kauf nehmen müssen, um überhaupt noch einen Arzttermin zu bekommen. Das ist ganz klar eine Leistungseinschränkung. Schlimmer noch als dieser Wortbruch - und geradezu gefährlich - ist allerdings, dass das GKV-Gesetz aus dem Hause Lauterbach auch wieder nur eines ist, mit dem an Symptomen herumgedoktert wird, ohne die Ursachen der Misere der Gesetzlichen Krankenversicherung anzugehen. Es stimmt zwar, dass auch frühere Regierungen nach dem Motto “Augen zu und durch” vorgegangen sind, aber mittlerweile haben die Finanzierungsprobleme ein Ausmaß erreicht, dass grundsätzliche Änderungen dringend erforderlich macht, wenn das System nicht zusammenbrechen soll.

Um welche Probleme geht es dabei im Einzelnen?

Schauen wir uns die Zahlen an: Von den rund 84 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, waren mit Stand Juli 2022 rund 74 Millionen in 97 Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung versichert. Davon galten rund 57 Millionen Versicherte als Beitragszahler - 16,7 Familienangehörige waren kostenfrei mitversichert. Zugleich muss man berücksichtigen, dass Millionen von Rentnerinnen und Rentnern in der GKV angesichts geringer Renten nur sehr geringe Beiträge zahlen, von denen die Rentenkasse die Hälfte trägt. Hinzu kommen noch mehr als 3 Millionen Bezieher von Arbeitslosengeld II, deren Beiträge durch die Bundesanstalt für Arbeit übernommen werden, also ebenfalls letztlich vom Steuerzahler. Unterm Strich leisten wir uns im Gesundheitswesen ein Solidarsystem, in dem etwa 35 Prozent der Bezieher von Leistungen keinen Beitrag zu deren Finanzierung erbringen. Das kann nicht auf Dauer funktionieren. Das ist weder betriebswirtschaftlich noch unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit vertretbar. Vor allem aber: Das wird so nicht mehr lange bezahlbar sein, ohne dass der Staat dem Steuerzahler noch ganz erheblich tiefer als bisher in die Tasche greift.

Ihre Diagnose sieht ziemlich düster aus, wenn man die GKV mal als Patienten betrachtet, der auf Gesundung hofft. Welche Therapie würden Sie denn vorschlagen?

Meines Erachtens sind mutige Maßnahmen erforderlich, die zwar einschneidend sein mögen, aber am Ende zu einer vollständigen Gesundung führen werden: Man sollte zum Beispiel damit anfangen, dass nicht berufstätige Familienmitglieder von GKV-Versicherten künftig angemessene Beiträge dafür zahlen, dass sie medizinisch versorgt werden. Das kann schrittweise über mehrere Jahre erfolgen, um finanzielle Schocks für Familien zu vermeiden. Wenn schließlich Werte von ungefähr 80 bis 100 Euro pro erwachsenem, nicht berufstätigen Familienmitglied und 25 bis 50 Euro pro Kind erreicht sind, würde das in der Summe eine ganz erhebliche Stärkung der finanziellen Grundlagen der GKV ermöglichen, ohne dass alle Steuerzahler noch stärker als ohnehin schon belastet werden müssten.

Wie wäre das mit sozialer Gerechtigkeit und Solidarität vereinbar?

Einkommensschwache Familien, die das nicht leisten können,müssten natürlich aus Steuermitteln unterstützt werden. Dafür hätte sicher jeder Verständnis. Insgesamt wäre das aber für die Gesellschaft gerechter und zugleich billiger als die Jahr für Jahr wachsenden Milliardenzuschüsse zu defizitären Krankenversicherungen.

Und die Besserverdienenden bleiben dann in der Privaten Krankenversicherung unter sich, halten Sie das für ein wünschenswertes Gesellschaftsmodell?

Vor allem halte ich nichts davon, solche Sachthemen aus einer ideologisch vorbestimmten Perspektive anzugehen. Die PKV, die linke Politiker wie Karl Lauterbach wohl am liebsten zwecks Finanzierung der GKV-Defizite schröpfen oder gleich ganz auflösen möchten, liegt dem Steuerzahler nicht auf der Tasche. In der PKV wird auch für jeden Versicherten ein Beitrag fällig, kostenlos mitversicherte Partner gibt es nicht. Zudem gibt es, was viele gar nicht wissen, anders als in der GKV keine vom Versicherer bezahlten Kuren. Zugleich werden privat Versicherte als Steuerzahler indirekt zur Finanzierung der GKV in Form von staatlichen Milliardenzuschüssen herangezogen, obwohl sie für Ihre Krankenversicherung selbst aufkommen - natürlich gegebenenfalls mit dem entsprechenden Arbeitgeberanteil. Das alles gehört dazu, wenn wir über das große Thema soziale Gerechtigkeit reden wollen.

Kehren wir zurück zur Jahresbilanz der Ampel-Gesundheitspolitik. Die ersten Monate waren von Corona überschattet. Gab es angesichts dessen überhaupt Spielraum für gesundheitspolitische Reformen, so nötig diese auch sein mögen?

Ich will die erheblichen Probleme, die durch die Corona-Pandemie verursacht wurden, überhaupt nicht kleinreden. Aber es war nun auch nicht so, dass die Vorgängerregierung geschlafen hat. Für den Kampf gegen Corona waren beim Amtsantritt der Ampel alle Weichen gestellt, und die bis dahin möglichen Abwehrmaßnahmen waren in vollem Gange. Aber Jens Spahns Nachfolger gefiel sich offenkundig in der Rolle eines Corona-Propheten, um nicht zu sagen Corona-Besserwissers. Man hatte den Eindruck, dass ihn jede einzelne Talkshow des deutschen Fernsehens magisch anzog; Lauterbach war in den Medien omnipräsent. Monatelang, so schien es, hatten wir in Deutschland anstelle eines Gesundheitsministers nur einen Corona-Minister. Und zwar einen, der seine Aufgabe darin sah, die Menschen mit Horrorvisionen zu erschrecken.

So wurde uns eine katastrophale Sommerwelle prophezeit, die unglaublich viele Menschen dahinraffen könnte. Eine Welle kam zwar, aber sie dauerte nur wenige Wochen und hatte längst nicht die vorhergesagten schweren Folgen. Das hat den Gefahrenmelder der Nation aber nicht davon abgehalten, im Sommer ein Corona-Desaster für den Herbst anzukündigen und etliche Millionen Euro für eine Werbekampagne für Impfungen auszugeben, von der absehbar war, dass sie kaum noch jemand beachten würde. Die Impfquote stagniert jedenfalls. Und einen Corona-Tsunami hat es dann auch im Herbst nicht gegeben. Was natürlich nicht heißt - das ist mir vollkommen klar -, dass sich die Corona-Probleme im Winter nicht wieder erheblich zuspitzen könnten. Aber wir verfügen mittlerweile über sehr viel Erfahrung im Umgang mit Corona, es stehen Medikamente zur Verfügung und es gibt ausreichend Impfstoff für alle, die sich besser schützen wollen. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Grund für irgendeine Art von Panik.

Das Gesundheitsministerium hat 2022 für so manche aufgeregt wirkende Schlagzeile gesorgt. Ende September zum Beispiel für diese: “Lauterbach will jede vierte stationäre Behandlung ambulantisieren”. Was halten Sie davon?

Die Pläne des Gesundheitsministers zur “Ambulantisierung” sind in meinen Augen die größte Unverschämtheit in der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Krankenhäuser sollen ab Januar alle Behandlungen als Tagesbehandlung durchführen, die irgendwie dafür geeignet sein könnten. Wenn das so durchkommt, wie es die von Lauterbach eingesetzte Krankenhauskommission empfohlen hat, wird die Verantwortung, ob ein Patient nach einer Operation gleich nach Hause geht oder erst noch im Krankenhaus bleibt, zu weiten Teilen vom Arzt auf den Patienten übertragen. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Damit würde man den ehernen Grundsatz aushebeln, dass nur der Arzt entscheidet, wie die medizinische Versorgung eines Patienten abzulaufen hat. Das ist in diesem Land seit Jahrzehnten Konsens. Lauterbachs Pläne laufen im Endeffekt darauf hinaus, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ausgehebelt wird.

Unter Hinweis auf das Expertengremium mit dem optimistisch klingenden Namen „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ macht Minister Lauterbach geltend, dass es in Deutschland viel zu viele Betten und viel zu viele stationäre Behandlungen gebe…

Das stimmt zwar und das ist auch seit langem bekannt. Zusätzlich verschärft werden die Probleme durch den Fachkräftemangel. Es fehlt weiterhin an Pflegekräften und in den kommenden Jahren werden auch Zehntausende von Ärzten fehlen. Die Probleme sind offensichtlich. Ebenso klar ist auch, dass es jahrelang versäumt wurde, rechtzeitig gegenzusteuern. Aber das kann keine Entschuldigung dafür sein, dass man nicht endlich damit anfängt und zum Beispiel für mehr Medizinstudienplätze sorgt. Jetzt sollen Hauruck-Maßnahmen Abhilfe schaffen: Sämtliche bislang vollstationär erbrachten Behandlungen sollen als “Tagesbehandlungen” durchgeführt werden, soweit das “medizinisch vertretbar” ist. Der medizinische Fortschritt, so wird erklärt, ermögliche heute eine weit höhere Patientensicherheit, so dass viel mehr Untersuchungen, Eingriffe und Behandlungen ambulant vorgenommen werden könnten.

Natürlich ist vorstellbar, dass noch mehr Behandlungen ambulant erfolgen. Aber doch nicht massenweise. Bekanntlich ist jede Operation ein Eingriff in den Körper, der potenziell immer zu Komplikationen führen kann. Kein Arzt kann zum Zeitpunkt der Operation vollkommen sicher voraussagen, wie sie auf den Körper des jeweiligen Patienten wirkt. Der eine mag kurz nach einer Knie-Operation schon wieder recht fit sein, beim anderen schwillt das Knie vielleicht stark an und er hat tagelang mit starken Schmerzen zu tun. Jeder Körper reagiert anders. Und da sollen nun Patienten quasi selbst entscheiden, ob sie gleich nach der OP nach Hause gehen?

Entscheiden soll doch aber immer noch der Arzt…

Ja, formal betrachtet. Aber vom Arzt wird offenkundig erwartet, dass er dem Patienten die ambulante Variante nahelegt. Er wird unter Druck gesetzt. Entweder, um Betten freizumachen, denn bei Bezahlung per DRG-Pauschale verdient das Krankenhaus mehr, wenn der Patient rasch wieder draußen ist. Oder weil künftig für bestimmte Operationen ohnehin nur noch eine Pauschale für ambulante Behandlungen abgerechnet werden kann. Das ist ein Spannungsfeld zwischen der medizinischen Sicht der Dinge und der betriebswirtschaftlichen. Und entschieden werden soll schon kurz nach einer Operation. Das Risiko wird auf diese Weise komplett auf den Arzt und den Patienten abgewälzt, der ja schriftlich sein Einverständnis geben soll.

Damit dürften auch jede Menge praktische Fragen verbunden sein…

Zum Beispiel die Frage, ob der Patient zu Hause in den ersten Nächten und Tagen von jemandem zuverlässig betreut werden kann. Ist diese Person - womöglich der ältere und auch nicht mehr gesunde Ehepartner - dazu wirklich in der Lage? Wie sieht das in den vielen Single-Haushalten aus? Mehr noch: Sind die Notdienste darauf eingestellt, dass es künftig öfter nächtliche Hilferufe wegen Komplikationen nach einer ambulanten OP geben könnte? Oder stellen wir plötzlich fest, dass sie damit völlig überfordert sind? Immerhin müssen da ja Rettungssanitäter und Notärzte in ausreichender Zahl bereitstehen, was heute schon ein Problem ist. Wo soll das hinführen?

Ich fürchte, dass wir uns in Horrorsituationen hineinmanövrieren, wenn die “Ambulantisierung” so durchkommt. Man kann nur hoffen, dass verantwortungsbewusste Politiker diesen Wahnsinn stoppen oder zumindest eindämmen. Da sind jetzt auch die Experten in den Standesvertretungen gefragt, in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und natürlich auch in der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Der deutschen Öffentlichkeit sollte vor Augen gehalten werden, was das alles für jeden einzelnen Patienten bedeuten könnte. Denn wenn diese Pläne unverändert durchkommen, werden wir 2023 als ein Jahr erleben, in dem in unserem Gesundheitswesen die Büchse der Pandora geöffnet wurde - und wir werden uns nach den Zuständen im “Annus horribilis 2022” zurücksehnen.

 

Zur Person: Frank Rudolph ist mit dem deutschen Gesundheitswesen - seinen Vorzügen wie seinen Problemen - bestens vertraut. Die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen, insbesondere das Verhältnis von Kosten und Nutzen in der medizinischen Versorgung, sind Dauerthemen für den Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit. Der 1960 in Essen geborene Betriebswirt war von 2007 bis 2013 Mitglied der Bundeskommission Gesundheit und ist bis heute Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Seit 2007 ist Frank Rudolph 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW.


https://www.bvvg-ev.de/start/
https://www.nawrocki-pr.de/

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