Die Entwicklung neuer, innovativer Medikamente am Standort Deutschland werde unattraktiver, heißt es in einer im Juli 2023 publizierten Studie des Verbandes der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) und der Beratungsfirma Kearney. Stattdessen findet Forschung zunehmend im Ausland statt. Doch reagiert die Politik mit den richtigen Gegenmaßnahmen?
Einer der führenden Standorte medizinisch-pharmazeutischer und industrieller Biotechnologie in Deutschland ist die Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main. Hier hat unter anderem Sanofi seinen Deutschlandsitz. Allein am BioCampus in Frankfurt beschäftigt das global agierende Pharmaunternehmen rund 6.300 Mitarbeitende. Ihr Fokus: Biologika. Biologika spielen in der modernen Medizin eine immer größere Rolle. Das Potenzial dieser modernen Arzneimittel, die in biotechnologischen Prozessen durch modifizierte Bakterien, Hefen oder Zelllinien hergestellt werden und 200 bis 1.000-mal größer sind als kleine Moleküle, gilt als enorm. Ihre Anwendung finden sie beispielsweise in der Immunologie, in der Onkologie, aber auch bei entzündlichen und Seltenen Erkrankungen.
Forschungsstandorte könnten perspektivisch rar werden
Die strategische Steuerung der Forschungsaktivitäten an diesem Innovations-Standort leitet Marion Zerlin. Die in organischer Chemie promovierte Biologin begann ihre Karriere Anfang der 2000er Jahre im Bereich der frühen Forschung mit der Suche nach chemischen Wirkstoffmolekülen. Später führte sie in unterschiedlichen Rollen Teams im Bereich der Entwicklung moderner Biologika, darunter in Frankreich, Großbritannien, USA und China und trug zur Zulassung vieler Arzneimittel des Portfolios von Sanofi bei. Seit August 2023 zeichnet sie als Geschäftsführerin für den Bereich Forschung und Entwicklung von Sanofi verantwortlich. „Hier am Biocampus sind wir in der Lage, von der Forschung über die Entwicklung bis hin zur Produktion und fertigen Medikament für die Patientinnen und Patienten alles an einem Standort zu bündeln. Dafür setzen wir auch auf interdisziplinäre Teams und digitale Lösungen“, berichtet Zerlin.
Forschungsstandorte wie am BioCampus könnten in Deutschland jedoch perspektivisch seltener werden. Zu dem Schluss kommt die Studie von vfa und Kearney, der zufolge Deutschland als Innovationsstandort für Pharmaunternehmen zurückfalle. Bei Sanofi teilt man diese Sorge: „Will ein Land im globalen Wettbewerb bei der Arzneimittelentwicklung eine Rolle spielen, muss es als Standort attraktiv sein.“, betont Marion Zerlin, „Doch der globale Wettbewerb ist riesig, die aktuellen Anforderungen an die Branche sind hierzulande komplex und die regulatorischen Rahmenbedingungen in aller erster Linie herausfordernd, kosten- und zeitintensiv“.
Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung und dem Zugang zu Forschungsdaten
Tatsächlich wurden etwa Neuinvestitionen in Zukunftstechnologien wie Gen- und Zelltherapien zuletzt vor allem in den USA getätigt. Eine Zahl, die dies untermauert, gibt zu denken: Im Jahr 2021 kamen laut clinictrials.gov acht von zehn aller neu zugelassenen Arzneimittel aus den USA. Und war Deutschland im Jahr 2016 hinsichtlich der Anzahl durchgeführter klinischer Studien nach den USA noch weltweite Nummer 2, steht es 2021 nur noch auf Platz 6. Zerlin erklärt es so: „Wenn es um Wissen und Erkenntnis geht, dann sind wir hier in Deutschland top. Das Problem ist, diese Erkenntnisse in Innovationen zu überführen, die auch bei den Patientinnen und Patienten ankommen.“ Nachholbedarf gebe es insbesondere in Sachen Digitalisierung und beim Zugang der Industrie zu Forschungsdaten. Immerhin, so Zerlin, sei die Politik beim Zugang zu anonymisierten Gesundheitsdaten aktuell schon in Bewegung – ähnlich wie bei Themen der steuerlichen Forschungsförderung, den Energiepreisen etc.
Inflation, Energiekosten und GKV-Finanzstabilisierungsgesetz belasten die Innovations-Budgets
Auf Widerstand innerhalb der Pharmabranche hingegen stößt das Ende 2022 verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Das Gesetz hatte die Bundesregierung auf den Weg gebracht, nachdem die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen in der Corona-Pandemie gelitten hatte. Maßnahmen wie eine Verlängerung des Preismoratoriums für Arzneimittel, die Erhöhung des Herstellerabschlags und die tiefgreifenden Änderungen im AMNOG, einem Gesetz, das die Nutzenbewertung und Preisfindung für innovative Medikamente regelt, gefährden – so die Kritik – die Investitionen und Innovationen am Standort Deutschland. „In Zeiten von Inflation und hohen Energiekosten fehlt unserer Branche durch den direkten Mittelentzug das Budget für dringend notwendige Investitionen“, erklärt Heidrun Irschik-Hadjieff, Geschäftsführerin bei Sanofi in Deutschland, den Unmut innerhalb ihrer Branche. „Leider gehen solche kurzsichtigen und innovationsfeindlichen Sparmaßnahmen dann zu Lasten der medizinischen Versorgung.“
Gleichzeitig vermisse man in der Politik ein klares Bewusstsein dafür, dass die Pharmaindustrie eine relevante Schlüsselindustrie für die deutsche Wirtschaft und die Gesundheitsversorgung darstellt. Mit rund 120.000 Mitarbeitenden und einem Umsatz von etwa 56 Milliarden Euro im Jahr 2022 ist die Pharmabranche ein wichtiger Markt für gut qualifizierte Fachkräfte. Auch gehört sie zu den fünf Industrien mit der höchsten Investitionsquote in Maschinen und Anlagen und strahlt damit signifikant in den spezialisierten Maschinen- und Anlagenbau aus. Nicht zuletzt können innovative Impfstoffe und Medikamente dazu beitragen, dass Menschen gesünder und älter werden und damit länger und produktiver am Erwerbsleben teilnehmen können.
79% der Deutschen für Stärkung der Pharmaindustrie durch die Politik
Im rein gesellschaftlichen Diskurs scheint diese Erkenntnis hingegen fest verankert zu sein. Der deutschen Pharmaindustrie, der es gelang, den ersten in Europa zugelassenen Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus zu entwickeln, hat Corona einen spürbaren Imagegewinn verschafft. Wie hoch das öffentliche Bewusstsein um die Schlüsselrolle der industriellen Gesundheitswirtschaft tatsächlich ausfällt, zeigt der „Sanofi Gesundheitstrend“, eine vom Meinungsforschungsinstitut NielsenIQ im Auftrag von Sanofi durchgeführte Meinungsumfrage unter 1.000 Teilnehmern. Befragt nach den Branchen, die Menschen in Deutschland für ihr persönliches Leben als am wichtigsten erachten, rangiert darin der Gesundheitssektor unter den meistgenannten. Nur die Lebensmittelbranche bekommt einen noch höheren Stellenwert. Ein Viertel der Befragten sieht den Gesundheitssektor sogar als den wichtigsten an. Die Bedeutsamkeit der Branche schlägt sich auch in Wünschen nieder: Acht von zehn Menschen finden, dass die Politik zur Stärkung der Pharmabranche beitragen sollte. Noch mehr Menschen (84 Prozent) sehen sie als eine tragende Säule des Gesundheitssystems in Deutschland.
„Zum Gestaltungsanspruch in Deutschland bekennen“
Dass sich der Zuspruch aus der Bevölkerung auch verstärkt im politischen Diskurs widerspiegelt, hofft auch Marion Zerlin am BioCampus in Frankfurt: „Wir sollten uns hier in Deutschland gemeinsam zu einem klaren Gestaltungsanspruch im Bereich der Pharmaforschung bekennen und sollten neue Technologien und innovative Therapien nicht den globalen Wettbewerbern überlassen. Dazu muss die Politik Pharma als Schlüsselindustrie für Deutschland ernstnehmen!“
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