Von Simone Dyllick-Brenzinger
Warum ist Pathologie Schwerpunkt beim Deutschen Krebskongress (DKK) 2024?
Johannes Bruns: Die Pathologie ist aus der Krebsmedizin nicht wegzudenken, sie stellt die Grundlage einer gesicherten Diagnose, ist der Wegbereiter für die personalisierte Medizin und steht für Fortschritt und Innovation. Mit einem molekularpathologischen Befund des Tumorgewebes ist es möglich, die Therapie einzusetzen, die in vielen Situationen zielgerichtet auf den Krebspatienten zugeschnitten ist. Für Patient*innen bedeutet das: eine passgenaue Therapie, weniger Nebenwirkungen, eine bessere Lebensqualität und im besten Fall eine Heilungschance.
Die Pathologie ist darüber hinaus eine sehr innovative Disziplin, ich denke da etwa an die KI-gesteuerte Pathologie. Sie kann helfen, den diagnostischen Prozess genauer und auch effizienter zu gestalten. Wir stehen hier erst am Anfang! Auf dem DKK diskutieren wir neben diesen neuen Entwicklungen zudem darüber, welche Strukturen in der Versorgungslandschaft benötigt werden, damit die genomische Analyse qualitätsgesichert zum Einsatz kommt und wir zeitgleich Wissen zu den dann eingesetzten Therapien generieren.
Der Deutsche Krebskongress steht in diesem Jahr unter dem Motto „Fortschritt gemeinsam gestalten“. Worin begründen Sie die aktuelle Relevanz dieses Leitsatzes?
Gerd Nettekoven: Das diesjährige Kongressmotto unterstreicht sehr deutlich sowohl die Aufgaben als auch die Herausforderungen, denen wir uns im Kampf gegen den Krebs entgegenstellen müssen. Die Versorgung krebskranker Menschen besteht schon lange nicht mehr nur aus Operation, Chemo- und Strahlentherapie.
Die großen Fortschritte in der Forschung und Krebsmedizin insbesondere der vergangenen Jahre ermöglichen eine immer komplexere Diagnostik und effektivere Therapien. Diese Fortschritte beruhen nicht auf der Leistung einzelner Disziplinen. Sie bedürfen der Synergie eines gut koordinierten, multidisziplinären Austauschs, in den auch Patient*innen eingebunden sein müssen.
Der Deutsche Krebskongress bringt Expert*innen aller Fachrichtungen zusammen, die sich über wissenschaftliche, medizinische und gesundheitspolitische Entwicklungen austauschen. Um in Zukunft weitere Fortschritte zu erzielen und damit diese auch schnell bei Patient*innen ankommen, ist der Auf- und Ausbau von Forschungs- und Versorgungsnetzwerken von zentraler Bedeutung. Dies ist ein wichtiges Anliegen der Deutschen Krebshilfe, für das wir uns seit vielen Jahren einsetzen.
Expert*innen gehen davon aus, dass 40 Prozent aller neu auftretenden Krebserkrankungen durch gezielte Prävention vermeidbar wären. Wie ordnen Sie diese Zahl auch hinsichtlich des Kongressmottos ein?
Gerd Nettekoven: In der Krebsprävention liegt ein immenses, bislang jedoch unzureichend genutztes Potenzial. Zu den größten Krebsrisikofaktoren gehören Tabak- und Alkoholkonsum, Übergewicht, Bewegungsmangel sowie eine zu hohe UV-Belastung. Welche Risiken bei welchen Menschen zu Krebs führen, wissen wir in den meisten Fällen jedoch nach wie vor nicht. Wir benötigen ein tiefergreifendes Verständnis der Zusammenhänge von Lebensstil und Krebsentstehung: Welche Umweltfaktoren beeinflussen das Krebsrisiko? Welche biochemischen und molekularen Prozesse liegen der Krebsentstehung zugrunde? Wie können wir das individuelle Krebsrisiko eines Menschen bestimmen? Und wie können wir Menschen zu einem nachhaltig gesundheitsbewussten Verhalten motivieren?
Um diese Fragen zu beantworten, entsteht in Heidelberg derzeit das „Nationale Krebspräventionszentrum“ in strategischer Partnerschaft zwischen Deutscher Krebshilfe und Deutschem Krebsforschungszentrum. Wir haben kürzlich ein Forschungs-Schwerpunktprogramm eingerichtet, um insbesondere junge Wissenschaftler*innen für die Krebspräventionsforschung zu begeistern, die in Deutschland unterrepräsentiert ist.
Unser Ziel ist es, die Krebspräventionsforschung in Deutschland nachhaltig auszubauen und gleichzeitig mit entsprechenden Kampagnen bundesweit das Bewusstsein für eine gesunde Lebensweise zu schärfen. Aber auch für das gesamte Spektrum der Krebsprävention gilt: Nachhaltige Veränderungen und Fortschritte werden wir nur durch vernetztes Agieren und gemeinsames Handeln bewirken. Krebsprävention darf nicht nur in der Eigenverantwortung der Menschen liegen, sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir gemeinsam – und mit der Unterstützung der Politik – angehen und gestalten müssen. Der Krebskongress bietet dafür eine gute Diskussionsplattform.
Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren zahlreiche politische Initiativen zum Thema Onkologie gestartet. Leuchtturmprojekte unter der Beteiligung Ihrer Organisationen sind der Nationale Krebsplan und die Nationale Dekade gegen Krebs, über die auf dem DKK diskutiert wird. Wie schätzen Sie den Fortschritt der beiden Initiativen ein? Werden die gesetzten Ziele erreicht?
Johannes Bruns: Seit 16 Jahren gibt es den Nationalen Krebsplan – einige Ziele sind bisher erreicht worden. Viele hier diskutierten Themen sind auch dank des Engagements von Deutscher Krebsgesellschaft und Deutscher Krebshilfe entscheidend vorangebracht worden, etwa der Ausbau des dreistufigen Zertifizierungssystems in der Onkologie und die Steigerung der Behandlungszahlen in diesen Netzwerken, die Weiterentwicklung in der Qualität in der Onkologie mit der Leitlinienarbeit, die bundesweite Einführung von klinischen Krebsregistern und die Finanzierung der Arbeit der psychosozialen Krebsberatungsstellen.
Das sind wichtige Meilensteine. Aber nun muss an den richtigen Stellen nachjustiert werden. Die Diskussionen im Nationalen Krebsplan haben gezeigt, dass wir in Deutschland bei der Versorgungsplanung zu sehr in Sektoren denken. Ein Beispiel: Wir entwickeln Konzepte für den stationären Bereich, aber die Verzahnung in den ambulanten Bereich gelingt nur schwer. Das gleiche gilt für verschiedene Berufsgruppen, die in der Onkologie beteiligt sind.
Gerade die Versorgung von onkologischen Patient*innen kann nur verbessert werden, wenn viele verschiedene Fachrichtungen interdisziplinär und sektorenübergreifend zusammenarbeiten – das fordert die Deutsche Krebsgesellschaft schon seit Jahren. Auf dem Deutschen Krebskongress werden wir die Neuausrichtung des Nationalen Krebsplans mit verschiedenen Stakeholdern diskutieren. Sie sprechen auch die Nationale Dekade gegen Krebs an.
Die Dekade hat es geschafft, den Stellenwert der Krebsforschung in der Öffentlichkeit zu schärfen. Zudem wurde die Patient*innenbeteiligung in der Forschung und Versorgung vorangetrieben. Das sind gute Erfolge. Die DKG bringt sich auch in der Arbeitsgruppe „Wissen generieren durch Vernetzung von Forschung und Versorgung“ ein. Hier setzen wir Impulse, wie aus der Versorgung Wissen über Behandlungen und Therapien erlangt werden können und so die Patient*innenversorgung letztendlich verbessert werden kann.
Wie bewerten Sie die aktuelle Versorgungslage von Krebspatient*innen in Deutschland?
Gerd Nettekoven: Krebskranke Menschen werden in Deutschland insgesamt schon sehr gut versorgt. Das von Herrn Bruns angesprochene dreistufige Zertifizierungssystem – bestehend aus Organkrebszentren, klinischen onkologischen Krebszentren und den von der Deutschen Krebshilfe initiierten und geförderten Comprehensive Cancer Center (CCCs) – hat das Ziel einer flächeneckenden Versorgung auf höchstem Niveau und nach aktuellem Stand der Wissenschaft.
Mit diesen Strukturen haben wir in den vergangenen 15 Jahren die Grundlagen für eine leistungsfähige und zukunftsorientierte Patientenversorgung in Deutschland geschaffen. Aber bei weitem noch nicht alle Patient*innen werden in zertifizierten Zentren versorgt. Und Krebspatient*innen profitieren von einer Zentrumsversorgung. Das belegen aktuelle Daten. Hier besteht also noch Handlungsbedarf. Auch müssen die Zentren noch wesentlich besser vernetzt werden, insbesondere mit den CCCs, deren Aufgabe auch die Forschung und die Durchführung klinischer Studien ist.
Von Innovationen und Impulsen der CCCs müssen auch Zentren und niedergelassene Ärzt*innen in der jeweiligen Region von CCCs profitieren und in deren Arbeit eingebunden werden. Aber auch eine bessere Datenlage und -nutzung würde uns helfen, die Versorgung krebskranker Menschen weiter zu verbessern. Daten aus den klinischen Krebsregistern müssen beispielsweise umfassend auch für die Versorgungsforschung genutzt werden.
Was sollte sich aus Sicht der Onkologie in der Patientenversorgung (noch) verbessern?
Johannes Bruns: Ich möchte hier gerne an Herrn Nettekoven anschließen: Für die Wissensgenerierung in der Onkologie sind Netzwerkstrukturen enorm wichtig – Krebsbetroffene haben ganz konkret etwas davon. Wir sehen das in den zertifizierten Zentren, die in Netzwerken organisiert sind. Eine Studie konnte nun zeigen, dass Krebsbetroffene, die dort erstbehandelt wurden, eine bessere Überlebenschance haben. Leider fördert die Krankenhausreform – zumindest nach dem aktuellen Planungsstand, der uns vorliegt – diesen Netzwerkgedanken nicht hinreichend.
Die onkologisch tätigen Fachgesellschaften haben in einer Stellungnahme verdeutlicht, wie sich die Netzwerkstrukturen der zertifizierten Zentren im Rahmen der Krankenhausreform umsetzen ließen. Wir setzen uns dafür ein, dass diese Vorschläge im weiteren politischen Prozess der Reform Berücksichtigung finden.
Zudem sollten wir Personen, die mit Krebs leben oder geheilt sind – die sogenannten Cancer Survivor – stärker in den Fokus der Versorgung rücken. Denn auch wenn heutzutage viel mehr Menschen Krebserkrankungen überleben, leiden viele von ihnen auch nach Therapieabschluss an medizinischen Langzeitfolgen, wie etwa an chronischer Erschöpfung oder an einer beeinträchtigten Gedächtnisleistung. Dies kann Folgen für die Reintegration in den Alltag und in das Berufsleben haben. Hier benötigen wir strukturelle Survivorship-Programme, die diese Personen frühzeitig auffangen und betreuen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Vernetzung von Forschung und Versorgung. Spitzenforschung in der Onkologie ist wichtig, keine Frage. Aber sie muss auch diejenigen erreichen, die von Krebs betroffen sind. Denn nur so profitieren Patient*innen davon. Wir müssen in der Onkologie viel mehr Wissen aus der tatsächlichen Versorgungslandschaft generieren. Die Deutsche Krebsgesellschaft leistet das bereits mit den zertifizierten Zentren und den Onkologischen Leitlinien.
Die Bundesregierung hat kürzlich Digitalgesetze verabschiedet, mit dem Ziel, die medizinische Versorgung und Forschung zu fördern. Sind die Gesetze aus Sicht der Onkologie ausreichend?
Johannes Bruns: Wir alle wissen, dass Deutschland in Sachen Digitalisierung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hinterherhinkt – leider gilt das auch für den Gesundheitsbereich. Die Digitalisierung ist ein großer Bereich, von der elektronischen Patientenakte bis zu Gesundheitsdaten. Ich möchte hier auf Letztes eingehen. In der Onkologie ist die Nutzung von Daten wichtig, um die Versorgung von Krebsbetroffenen zu verbessern und mehr Wissen zu Therapien und Behandlungen zu gewinnen. Aktuell ist in Sachen Digitalisierung Luft nach oben.
Ich hoffe sehr, dass es mit dem Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten Fortschritte geben wird. Die Deutsche Krebsgesellschaft fordert beispielsweise, dass die Untersuchung versorgungsrelevanter Fragestellungen zeitnah, niederschwellig und unter Nutzung notwendiger Datenquellen bundesweit ermöglicht wird. Im Gesetz wird auf die Zusammenführung von Daten der Krebsregister und des Forschungsdatenzentrums Gesundheit fokussiert, während die Zusammenführung von Daten anderer Quellen weiterhin schwierig sein wird. Zu begrüßen ist aus unserer Sicht jedoch, dass mit dem Gesetz die Zusammenführung von Daten in öffentlich geförderten Forschungsverbünden ermöglicht wird.
Unser Blick geht auch nach Europa, dort wird aktuell über einen Europäischen Gesundheitsdatenraum diskutiert. Forschende und öffentliche Einrichtungen sollen zukünftig über ein europaweit einheitliches System einen Antrag auf die Nutzung von Gesundheitsdaten stellen können. Der Verordnungsentwurf wird nun zwischen dem Europaparlament und EU-Kommission verhandelt. Es bleibt abzuwarten, wie schnell eine Einigung in Zeiten der Europawahl erreicht werden kann.
Die Deutsche Krebshilfe begeht in diesem Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum. Was wurde in den letzten 50 Jahren in der Krebsforschung in Deutschland erreicht? Wo besteht noch Handlungsbedarf?
Gerd Nettekoven: Die Deutsche Krebshilfe setzt sich seit ihrer Gründung durch Dr. Mildred Scheel unentwegt für krebskranke Menschen ein. Damals war Krebs noch ein Tabuthema. Viele verstanden Krebs als Strafe und die Diagnose als ein Todesurteil. Das ist heute anders. Von den rund 500.000 Menschen, die derzeit jährlich in Deutschland die Diagnose Krebs erhalten, wird die Hälfte heute wieder gesund. Bei Kindern und Jugendlichen sind es sogar vier von fünf der Betroffenen. An diesen Erfolgen war und ist die Deutsche Krebshilfe durch zahlreiche Förderprogramme und Initiativen – auch auf dem Gebiet der Krebsforschung – sowie umfangreiche Aufklärungsarbeit maßgeblich beteiligt. Trotz vieler erreichter Meilensteine richten wir unseren Blick in die Zukunft und blicken auf die immer noch immensen Herausforderungen, die vor uns liegen. Durch die alternde Gesellschaft gehen Fachleute davon aus, dass die jährlichen Neuerkrankungszahlen ansteigen werden. Und einigen Tumorerkrankungen wie dem Bauchspeicheldrüsenkrebs stehen wir therapeutisch noch immer fast machtlos entgegen. Die Krebsforschung wird daher auch in Zukunft einen sehr hohen Stellenwert für uns haben. So haben wir erst kürzlich ein neues Forschungsschwerpunktprogramm „Deutsche Allianz Pankreaskarzinom“ auf den Weg gebracht, das wir in den nächsten fünf Jahren mit 40 Millionen Euro fördern werden. Dieses Förderprogramm soll innovative, visionäre Forschung zu Prävention, Früherkennung, Diagnostik und Therapie des Pankreaskarzinoms ermöglichen. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang aber auch sehr, die in relativ kurzer Zeit im Rahmen der Dekade gegen Krebs durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung auf den Weg gebrachten wichtigen Forschungsinitiativen.
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