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MEHR ALS HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN

Welchen Nutzen haben Leitlinien für Krebsforschung und -versorgung?

Von Simone Dyllick-Brenzinger

Dr. Monika Nothacker (AWMF-IMWi), Prof. Dr. Jürgen Pauletzki (IQTIG), Friederike Kuhnt (GKV-Spitzenverband)

Wenn es um die Diagnose und Behandlung von Krebs geht, kommen medizinische Leitlinien ins Spiel: Leitlinien sind ein Transmissionsriemen, sie bündeln das Wissen aus vielen Studien durch den Filter von Fachleuten und leiten daraus konkrete evidenzbasierte und qualitativ hochwertige Behandlungsempfehlungen ab – für das onkologische Fachpersonal und Betroffene. Das Leitlinienprogramm Onkologie, das 2008 ins Leben gerufen wurde, umfasst mittlerweile 34 S3-Leitlinien. S3-Leitlinien bilden den bestmöglichen Wissensstand ab. Doch: Welche Rolle spielen Leitlinien im Sozialgesetzbuch? Wie können die Inhalte noch weiter verwendet werden, um die onkologische Versorgung zu verbessern – welches Potenzial haben sie noch? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Sitzung „Mehr als Handlungsempfehlungen – welche Rolle spielen Leitlinien im SGB V?“, die am 21. Februar 2024 auf dem Deutschen Krebskongress 2024 stattfand. Den Sitzungsvorsitz hatten Dr. med. Monika Nothacker, AMWF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement, und Thomas Langer, Leitlinienprogramm Onkologie, inne.

Unter dem Titel „Leitlinien als Abbildung des aktuellen Stands medizinischen Wissens“ führte Dr. Monika Nothacker ins Thema ein und verwies darauf, dass der Begriff „Leitlinie“ seit 2001 im fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) verankert sei – im Zusammenhang mit den damals eingeführten „Disease Management Programmen“ (DMPs), deren Entwicklung laut SGB V „unter Berücksichtigung von evidenzbasierten Leitlinien“ stattfindet. Mittlerweile, so Nothacker, sei der Begriff „Leitlinie“ im SGB V an verschiedenen Stellen verankert. Ende 2019 wurden Leitlinien auch bei der Nutzenbewertung von Arzneimitteln ins Gesetz aufgenommen. Im Zusammenhang mit der Ermittlung der „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ werden hier durch Leitliniengruppen Expertisen für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) erstellt – „und wir haben einen hohen Turn-over“, so Nothacker.

Aktuelle Inhalte bei Leitlinien in der Onkologie

Leitlinien seien wichtige Entscheidungshilfen „auch für die Gesundheitspolitik“, sagte Nothacker – aber: Es bleibe eine Herausforderung, diese aktuell zu halten. „Wir haben über 30 Leitlinien, aber mindestens die Hälfte davon ist älter als zwei Jahre.“ Was tun? Nothacker verwies darauf, dass Studien zur Aktualität von Leitlinienempfehlungen kaum vorhanden sind. Handlungsleitend für die AWMF ist darum eine US-amerikanische Untersuchung, die zu dem Schluss kam, dass nach 5,8 Jahren 50 Prozent der analysierten Leitlinien aktualisierungsbedürftig waren. Vor diesem Hintergrund habe die AWMF beschlossen, Leitlinien, die nach fünf Jahren nicht aktualisiert wurden, nicht länger der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

„Wir haben einen hohen Aktualisierungsbedarf bei den medikamentösen Therapien. In anderen Bereichen wie etwa Nachsorgeuntersuchungen ist der Aktualisierungsdruck nicht ganz so hoch“, erklärte Nothacker. Gerade in der Onkologie stellt die medikamentöse Therapie einen wichtigen Pfeiler dar. Nothacker zeigte auf, dass mittlerweile verschiedene Möglichkeiten zur Aktualisierung von Leitlinien bestehen. Durch sogenannte „Living Guidelines“ sei man in der Lage, Leitlinien im Jahresrhythmus zu aktualisieren.

Was sind Leitlinien? 
• Woher wissen Ärzt*innen eigentlich, welche Krebsart wie am besten behandelt wird? Und wie lässt sich sicherstellen, dass neue Forschungsergebnisse raus aus den Laboren und rein in die klinische Praxis gelangen? Genau das leisten im deutschen Gesundheitssystem sogenannte „Leitlinien“. Sie bieten eine medizinische und evidenzbasierte Entscheidungshilfe und richten sich an Ärzt*innen und andere Fachkräfte, die an der Diagnostik, Behandlung und Nachsorge von Erkrankten beteiligt sind.

• Leitlinien entstehen im Rahmen eines klar definierten Prozesses, der sich häufig – aufgrund der komplexen medizinischen Fragestellungen – über mehrere Jahre hinzieht. An ihrer Erarbeitung wirken Fachexpert*innen, aber auch Patient*innen mit. Leitlinien fördern Qualität und Transparenz und tragen dazu bei, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in die breite onkologische Versorgung transferiert werden. Neben Leitlinien, die sich an das medizinische Fachpersonal wenden, gibt es auch Patientenleitlinien. Sie stellen für Betroffene eine wertvolle Orientierung zu Diagnostik, Behandlung und Nachsorge von Krebserkrankungen dar.

• 2008 wurde das Leitlinienprogramm Onkologie von der AWMF, der Deutschen Krebsgesellschaft und der Stiftung Deutsche Krebshilfe gestartet, das sich über die Jahre zum Nukleus einer evidenzbasierten, patientenorientieren, interdisziplinären Krebsmedizin entwickelt hat.


GKV plädiert für S3-Leitlinien

Wie blickt die Kostenträger-Seite auf das Thema Leitlinien? Das erörterte Friederike Kuhnt vom GKV-Spitzenverband in einem Vortrag zum Thema „Bedeutung der Leitlinien für die gesetzliche Krankenversicherung“. Kuhnt ist Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen und leitet beim GKV-Spitzenverband das Referat für Methodenbewertung. Sie stellte eingangs fest, dass die Behandlung der Versicherten sich laut SGB V „daran zu orientieren habe, was der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse ist“.

Vor diesem Hintergrund ging sie ein auf die Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), auf den IQWIG-Auftrag und die Bewertung durch den G-BA und verortete hier den Wert von Leitlinien. „Legt man den GKV-Leistungskatalog und die Leitlinien übereinander, ergeben sich viele Schnittmengen“, so Kuhnt. Das gelte insbesondere für S3-Leitlinien. Kritisch merkte Kuhnt an, dass Leitlinien mitunter aber auch für Lobbying-Zwecke instrumentalisiert würden – „dann werden Leitlinien für uns als GKV zu Leidlinien“. Entscheidend sei, so Kuhnt, dass Leitlinien qualitativ hochwertig und evidenzbasiert seien, also möglichst dem bestmöglichen Wissensstand abbilden, dem die sogenannten S3-Leitlinien entsprechen.

Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG)


„Ich wünsche mir mehr evidenzbasierte Leitlinien und mehr Synergieeffekte zwischen Leitlinien und der Weiterentwicklung des GKV-Leistungskatalogs“, so Kuhnt abschließend. Klar ist: Leitlinien können ein effektiver Ausgangspunkt für die Erweiterung des GKV-Leistungskatalogs sein, sofern sie entsprechend hochwertig sind. Und das bindet Ressourcen: „Die Erstellung und stete Aktualisierung fordert die finanzielle Unterstützung von Organisationen wie der Deutschen Krebshilfe und ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement der beteiligten Fachexpert*innen“, ordnet Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), mit Blick auf die Thematik ein.

Weiter vertieft wurde das Thema in einer Diskussionsrunde, an der neben den beiden Vortragenden auch Prof. Dr. Jürgen Pauletzki teilnahm, der als Leiter der Abteilung Verfahrensentwicklung beim Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) tätig ist, dem zentralen Institut für die gesetzlich verankerte Qualitätssicherung im Gesundheitswesen in Deutschland.

Leitlinien können bei Entwicklung von Forschungsfragen unterstützen

Anders als in anderen Disziplinen wird bei der Entwicklung von onkologischen Leitlinien von Beginn an dokumentiert, wo Forschungsbedarfe liegen. Eine jeweils eigene Arbeitsgruppe entwickelt konkrete Fragestellungen und Forschungsdesigns. Kurz: Leitlinien haben ein großes Potenzial, die Forschung zu befruchten. „Priorisierte Forschungsfragen werden zunehmend in die onkologischen S3-Leitlinien integriert. Somit könnten die Leitlinien zukünftig noch konkreter die Erforschung praxisrelevanter Fragen unterstützen“, so Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der DKG.

Neue Formate aus Inhalten der Leitlinien denkbar

Das Potenzial von Leitlinien ist noch lange nicht erschöpft: Denkbar wäre, sie nicht nur, wie aktuell, in Zertifizierten Zentren zur Qualitätssicherung heranzuziehen, sondern – eine weitere Forderung von DKG-Generalsekretär Bruns – „flächendeckend in Gesundheitseinrichtungen in Deutschland“. Bruns plädiert außerdem dafür, die Inhalte der Leitlinien noch stärker publik zu machen. Bereits heute werden die Leitlinien in Patientenleitlinien übersetzt. Für die Zukunft wünscht sich Bruns Formate, „mit denen niedrigschwellig Entscheidungshilfen für Patient*innen bei Therapieentscheidungen geschaffen werden“. Die evidenzbasierten Inhalte der Leitlinien, so der DKG-Generalsekretär, würden sich dafür gut eignen.

Mehr über das Leitlinienprogramm hier (www.leitlinienprogramm-onkologie.de/home)

 

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