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Lesedauer: 5 Minuten

Wie sieht die Stadt der Zukunft aus, Herr Carsten?

Stefan Carsten ist Zukunftsforscher und Mobilitätsexperte. Er war Projektleiter in der Zukunfts- und Umfeldforschung bei der Daimler AG und hat dort Mobilitätsdienste wie car2go und moovel konzipiert. Heute ist er selbstständiger Berater und Mitglied zahlreicher Beiräte, wie dem Beirat „Strategische Leitlinien des ÖPNVs in Deutschland“ des Bundesverkehrsministeriums und der IAA Mobility in München, des Reallabors Radbahn in Berlin sowie im Gestaltungsbeirat der HOWOGE Berlin. In Zusammenarbeit mit dem Zukunftsinstitut veröffentlicht er außerdem regelmäßig den "Mobility Report", der sich mit den Trends und Herausforderungen der urbanen Mobilität befasst.

Im Interview spricht Stefan Carsten über die Zukunft deutscher Großstädte, wie sich Mobilität und der öffentliche Raum verändern werden und welche Rolle Digitalisierung dabei spielt. Er beschreibt, wie multifunktionale Stadtquartiere entstehen könnten, in denen Arbeit, Wohnen und Freizeit enger miteinander verzahnt sind, und warum der öffentliche Raum in Zukunft nicht mehr dem Auto, sondern den Menschen gewidmet sein wird.

Herr Carsten, wie wird eine deutsche Großstadt in 50 Jahren aussehen? Haben wir dann fliegende Autos und beamen zur Arbeit?

Weder noch. In 50 Jahren werden sich trotzdem dramatische Veränderungen eingestellt haben. Autos werden ausschließlich autonom fahren. Wir Menschen dürfen gar kein Auto mehr selbst steuern, stattdessen nutzen wir die Möglichkeiten der Shared-Economy voll aus. Auch deswegen braucht es viel weniger Platz für Autos in der Stadt und die Parkplätze sind drastisch reduziert. Deswegen sind Städte auch immer lebenswerter geworden, viel Grün hat Einzug gehalten, damit es bei über 40 Grad im Sommer überhaupt noch erträglich ist. Und schließlich, Städte sind dichter, gemischter, leiser und lokal sehr viel sauberer geworden. Zum Glück sterben wir dann nicht mehr täglich, wenn wir doch eigentlich nur zum Bäcker gehen wollen.

Um konkreter zu werden: Städte wie Berlin sind in den letzten Jahren stark gewachsen und auch für die kommenden Jahre wird weiteres Wachstum vorhergesagt. Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen? Welche Maßnahmen halten Sie für notwendig, damit Städte sich anpassen und auch in Zukunft lebenswert bleiben?

Berlin wächst an den Rändern und in Brandenburg, d.h. die Stadtregion wird immer größer und voller, was starke Auswirkungen auf die Mobilitätsgestaltung hat. Gleichzeitig müssen wir es schaffen, eine neue Art von Bau- und Immobilienwirtschaft zu etablieren, die mit neuen Bauprinzipien und Materialien arbeiten kann. Die neuen Stadtteile werden dann hoffentlich auch multifunktionale Räume sein: Wohnen und Arbeit, Freizeit, Einkaufen, Gesundheit, Bildung, Kultur und Verwaltung findet an einem Ort, in einer Nachbarschaft statt. Die Zeit der monofunktionalen Quartiere, die ich morgens mit dem Auto verlassen muss und zu denen ich abends reumütig zurückkehre, wird ein Ende haben.

Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Wohnraum, Mobilität und öffentlichem Raum in der Stadt der Zukunft?

80 Prozent aller Wege beginnen/enden an der eigenen Haustür, damit sind die Bedürfnisfelder klar abgesteckt. Es braucht Mobilität an jedem Ort, zu jeder Zeit. Das Auto ist nur noch ein kleiner Teil einer umfassenden Mobilität und verliert weiter an Bedeutung, so wie wir auch aktuell in Berlin mit Zahlen belegen können. Ansonsten bewegen wir uns so wie der Kalender, das Wetter, die Transportaufgabe es bestimmt, mal zu Fuß, mit dem Sharing-Bike oder dem autonomen Fahrzeug oder etwas ganz anderem. Der öffentliche Raum ist nicht mehr zu über 60 Prozent dem Auto gewidmet, sondern Mobility Hub, Ladestation oder pure Aufenthaltsqualität. Tankstellen wird es nicht mehr geben, Fahrkartenautomaten natürlich auch nicht. Da die Quartiere gemischt sind, so wie auch viele Straßen, muss ich nicht mehr alltäglich zur Arbeit pendeln, sondern finde viele Möglichkeiten vor Ort, was den Verkehr ebenfalls deutlich reduziert. Der öffentliche Raum wird somit zum bestimmenden Standortfaktor einer wissensbasierten Gesellschaft.

Welche Bedeutung hat die Digitalisierung für die Bewältigung aktueller Herausforderungen? Wie können digitale Innovationen und Technologien dabei helfen, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen?

Digitale Technologien können die Stadt transparenter und beeinflussbarer machen. Die Einflussnahme über Problemfelder erfolgt unmittelbar: Was funktioniert nicht? Was ist kaputt? Wie ist der Stand der Bearbeitung. Der digitalen Verwaltung kommt hier eine zentrale Bedeutung zu, von der wir gleichzeitig extrem weit entfernt sind. Außerdem werden das Bauen und die Mobilität digital. Materialien, Klimawirkungen, der ökologische Fußabdruck sind transparent, sowohl für die Lieferkette als auch auf individueller Ebene, was Kaufentscheidungen einfacher und messbarer machen.

Die Vorteile der Digitalisierung zeigen sich bereits in vielen Bereichen des täglichen Lebens (etwa Einkaufen im Internet bei der Nutzung von Mobilitätslösungen). Was behindert aus Ihrer Sicht die stärkere Nutzung digitaler Technologien und von Daten in der Stadtplanung?

Die Sorge vor dem Datenschutzbeauftragten und die immer wieder leidvolle Angst vor der Ausgrenzung sozialer Gruppen, vor allem von Seniorinnen und Senioren. Der erste Grund ist in der Regel unbegründet und ist ein typisch deutsches Phänomen. Der zweite Grund ist ebenso irrelevant. Der Anteil der Smartphone-Nutzer:innen liegt bei den über 75-Jährigen schon bei über 50 Prozent und wird täglich größer. Viele Dienste und Anwendungen könnten auch ohne Smartphone funktionieren oder im Zweifel einfach umsonst genutzt werden, was zu einer hohen Nutzungsattraktivität führen würde. Eine Umfrage der Bitkom zeigt im Übrigen: 91 Prozent würden ihre Mobilitätsdaten teilen, wenn dadurch die Verkehrssituation verbessert, Forschungen gefördert oder neue Angebote entwickelt werden würden. Es ist höchste Zeit für einen Perspektivwechsel.

Welche Rolle spielt die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern bei der Planung lebenswerter Städte?

Zunächst müssen die Expert:innen für die zukunftsfähigen Rahmenbedingungen sorgen: Wie bauen wir? Wie werden Stadtteile konzipiert? Welche Mobilitätsangebote braucht es? Dann erst kommen die Bürger:innen zum Zug. Die Erfahrungen zeigen, dass die Zivilgesellschaft in der Frühphase der Planungen überfordert ist und tendenziell ablehnend Veränderungen gegenübersteht, nach der Realisierung aber positiv reagiert. Gleichzeitig können wir heute bereits neue öffentliche Räume mithilfe der Bevölkerung schaffen. Die Initiative der 1-Minuten-Stadt aus Schweden zeigt, welche Bedürfnisse der Menschen im Umfeld ihres unmittelbaren Wohnraumes adressiert und umgesetzt werden können. Diese Bedürfnisse können mitunter auch genutzt werden, um neue lebenswerte Quartiere besser zu planen und zu gestalten. Vor der eigenen Haustür braucht es nicht immer einen Parkplatz für das Auto, sondern immer mehr Raum für Lastenräder, für eine Bank oder sogar einen Kinderspielplatz. Dies zeigen die Umsetzungen in Schweden auf beeindruckende Art und Weise.

Sie selbst wohnen in Berlin. Was halten Sie von den Bemühungen der Berliner Politik, die Stadt zukunftsfähig auszurichten (Stichwort Friedrichstraße, Radbahn Berlin)?

Es sind leider nur Bemühungen. Gut gemeint ist leider nicht gut genug. Die Friedrichstraße war ein Beispiel in diesem Sinne. Natürlich profitieren Einzelhändler von einer autofreien Nachbarschaft, das wissen wir aus vielen Studien, die Aufenthaltsqualität muss sich jedoch auch durch weitere Maßnahmen erhöhen. Letztlich war die autofreie Friedrichstraße kein gut gestalteter Mobilitätsraum. Das heißt, wir müssen erst lernen, welche Anforderungen solche Orte erfüllen müssen und wie wir diese umsetzen. Die Radbahn ist auf 200 Metern realisiert worden, was ein verwaltungsrechtlicher Kraftakt war. Jetzt fehlen noch ungefähr 9 Kilometer zum Lückenschluss vom Ku’damm bis zur Oberbaumbrücke. Das Flussbad ist ein weiteres Beispiel fehlender langfristiger Perspektive seitens der Politik. Die Politik hat letztlich nicht verstanden, dass alle drei Projekte ein Mehr an Attraktivität,  wirtschaftlicher Potenz und Lebensqualität für die Bürger:innen und die Wirtschaft bedeutet hätten. Ich bin sehr pessimistisch geworden, was die Gestaltungskraft der Berliner Politik anbelangt.

Was sind positive Beispiele für die gelungene Anpassung von Städten bzw. welche Städte befinden sich aus Ihrer Sicht auf einem guten Weg?

Es ist natürlich extrem beeindruckend, welche Transformation Paris hingelegt hat. Aber auch Brüssel, Mailand, London. Berlin reiht sich hier nicht ein. Paris war eine Hauptstadt einer Industriegesellschaft. Heute ist Paris der mit Abstand größte wirtschaftliche Investitionsstandort Europas – ein Standort der Wissensgesellschaft, wo gleichzeitig die Themen Mobilität, Wirtschaft, Ökologie und bezahlbarer Wohnraum auf die Agenda gesetzt und umgesetzt werden. In dieser umfassenden Perspektive steht Paris heute nahezu einzigartig da. Neben den bereits genannten kommen natürlich auch die traditionellen Vorbilder wie Kopenhagen, Amsterdam, etc. hinzu. Keine deutsche Stadt ist nur ansatzweise in dieser Riege zu sehen.

Dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung zufolge fühlt sich heute jeder Dritte zwischen 18 und 53 Jahren einsam, zumindest teilweise. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung und was muss die Politik machen, um auch in Zukunft den sozialen Zusammenhalt sicherzustellen?

Die sozialen Medien haben mit einer Wucht ihre Wirkung entfaltet, wie es sich nur wenige haben vorstellen können. Bereits Kinder und Jugendliche sind massiv von dieser Entwicklung betroffen. Kinder verbringen durchschnittlich fünf Stunden am Tag in den sozialen Netzwerken und bis zu doppelt so langer Zeit vor Bildschirmen. Die psychischen Folgen sind fatal: Angst, Depressionen, psychischer Stress und Selbstverletzung zeigen einen starken Anstieg und weisen eine starke Korrelation mit sozialen Medien auf. Brauchen wir einen Führerschein für die Smartphone-Nutzung, für den Umgang mit sozialen Medien? Definitiv braucht es eine sehr viel stärkere Kontrolle der Inhalte, aber ist das überhaupt noch leistbar? Gleichzeitig erhält die Leitbild-Forderung von Andrea Gebhard, Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, vor diesem Hintergrund eine besondere Relevanz: „Ein vierjähriges Kind muss alleine zum Eisessen gehen können.“ Als Gegenpol zur digital-technologischen Welt braucht es attraktive öffentliche Räume, die wieder Lust auf die Stadt und ihre Menschen machen.

 

 

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