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„Manchmal rufen wir direkt den Notarzt an.“

Im Interview erklärt der Labormediziner und Internist Prof. Dr. Jan Kramer, wie Labore unseren gesamten Lebensweg begleiten – und spricht über Situationen, in denen er selbst den Notarzt anruft.
 

Herr Prof. Dr. Kramer, wir alle kennen den Spruch „wir machen mal ein Labor“. Wie genau begleitet die Labormedizin uns durchs Leben?
Die Labormedizin begleitet uns nicht nur durchs Leben, sondern schon davor, nämlich im Mutterleib. Schwangere kennen es: Blutabnehmen gehört dazu – und das ist auch richtig und wichtig, denn Laboruntersuchungen geben wertvolle Auskunft über Dinge, die wir sonst nicht erfahren würden. Ein Beispiel: Wenn die Mutter Rhesus-negativ ist, kann im Labor der Rhesusfaktor des ungeborenen Kindes bestimmt werden. Ist das Kind Rhesus-positiv, besteht die Gefahr, dass die Mutter bei Kontakt mit kindlichem Blut Abwehrstoffe bildet – was beim Kind zu einer lebensbedrohlichen Blutarmut führen kann. Durch eine rechtzeitige und gezielte Rhesusprophylaxe kann dies verhindert und das Baby wirksam geschützt werden. Ein Großteil der Mutterschaftsvorsorge während der Schwangerschaft sind sinnvolle Laboruntersuchungen zum Schutz von Mutter und Kind. 

Kurz nach der Geburt findet dann das Neugeborenen-Screening statt, das in Deutschland flächendeckend angeboten wird …
… richtig, Neugeborenen werden 36 bis 72 Stunden nach der Geburt wenige Blutstropfen, meist aus der Ferse oder Vene, entnommen. Im Labor können wir dieses Blut dann auf seltene angeborene Erkrankungen untersuchen, etwa Stoffwechselerkrankungen, Hormonstörungen, Immundefekte, hämatologische Erkrankungen und mehr. Wenige Tropfen Blut können uns also schon in den ersten Lebenstagen Auskunft über Krankheiten geben, die zwar zunächst keine Symptome zeigen, aber unbehandelt schnell zu schwerwiegenden Schäden oder auch zum Tod führen können. Wenn wir eine Erkrankung im Labor erkennen, kann sofort eine gezielte Behandlung eingeleitet werden, etwa ein Hormonersatz oder eine Enzymtherapie. Viele Kinder können dank der Laboruntersuchung im Rahmen des Neugeborenen-Screenings gut behandelt aufwachsen, obwohl sie sonst schwer erkrankt wären. Und: Früherkennung von Erkrankung senkt langfristig die Belastung für Familien und die Kosten für das Gesundheitssystem.

Auch jenseits von seltenen Erkrankungen treten im Leben von Kindern immer wieder schwere Infektionen auf: In den letzten Jahren waren Kinderkliniken in den Wintermonaten häufig überlastet, weil das RS-Virus (Respiratorische Synzytial-Virus, RSV) grassiert. Wie kann Labormedizin hier helfen?
Hier gilt es, Erreger von Atemwegserkrankungen schnell zu identifizieren, damit die erkrankten Kinder passgenau behandelt oder Eltern beruhigt werden können. Aber es geht hier auch darum, Infektionsketten zu durchbrechen – weiß man beispielsweise, dass ein Kind Keuchhusten hat, kann man entsprechend handeln, Kontakte minimieren, vor allem zu Risikopersonen, und so weitere Ansteckungen verhindern. Bei der Infektionsdiagnostik ergeben sich durch die Multiplex-PCR-Verfahren sehr gute Möglichkeiten – wir können respiratorische Erreger noch besser identifizieren, egal ob bakteriell oder viral.

© Sven Appel

Prof. Dr. Jan Kramer ist Facharzt für Laboratoriumsmedizin und für Innere Medizin, Hämostaseologie. Er ist Ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des LADR Laborverbundes Dr. Kramer & Kollegen. Zudem ist er stellvertretender Vorsitzender des ALM e. V.

Vom Kindes- ins Erwachsenenalter: Wann haben wir als Erwachsene Kontakte mit der Labormedizin?
Zunächst gilt: Rund 70 Prozent aller Diagnosen können nur mithilfe einer Laboruntersuchung gestellt werden – wir sind neben der körperlichen Untersuchung und den bildgebenden Verfahren die dritte Säule der Medizin. Wenn wir nun in die Diagnostik gehen, unterscheide ich gern zwischen „lauten“ und „leisen“ Krankheiten. Erstere sind die Erkrankungen, in denen es akute Beschwerden gibt. Da ist es ratsam rasch Laboruntersuchungen je nach Verdachts- oder Differentialdiagnose zu machen, um die zum Teil schweren Erkrankungen möglichst frühzeitig behandeln zu können.

Ein Beispiel sind akute Leukämien, bei denen verschiedene Symptome von Abgeschlagenheit über Infekte bis hin zur Blutungsneigung auftreten können. Hier sind Labore unverzichtbar, denn durch die Beurteilung eines einfachen Blutbilds kann der Pfad zur Diagnose erst betreten werden. Speziellere Laboranalysen identifizieren dann den Typ der Leukämie. Denn Leukämie ist nicht gleich Leukämie: Hier ist eine genaue Diagnostik der Türöffner für die richtige Therapie. Im Labor schauen wir nach malignen Vorläuferzellen im peripheren Blut und im Knochenmark, den sogenannten Blasten, die die normale Blutbildung verdrängen und so zu einer Verminderung der roten und weißen Blutkörperchen sowie Blutplättchen führen können. Dank einer präzisen Diagnostik können wir genau bestimmen, welcher der unterschiedlichen Typen der akuten Leukämie vorliegt – und greifen frühzeitig sofort zum Telefon und rufen den behandelnden Arzt an. Im weiteren Verlauf gibt eine genetische Laboranalyse zudem Auskunft unter anderem zur Prognose der jeweiligen Leukämie.

… und wenn der Arzt nicht zu erreichen ist?
Auch das passiert, und in einem solchen Fall kontaktieren wir dann den betreffenden Patienten direkt – es kommt aber auch vor, dass wir direkt einen Notarzt losschicken müssen. Denn es gibt tatsächlich Fälle, in denen jede Minute zählt – und eine Behandlung in der Klinik Leben rettet.

Sie untersuchen jeden Tag über 15.000 Aufträge. Wie stellen Sie sicher, dass Sie Notfälle auch tatsächlich erkennen – oder umgekehrt, keinen Fehlalarm auslösen?
Ja, wir haben in unserem LADR Zentrallabor Dr. Kramer & Kollegen bis zu 70.000 Proben aus diesen rund 15.000 Aufträgen. Und hinter jedem Auftrag steht ein Patientenschicksal. Daher ist es die Kunst, dass uns nichts „durch die Lappen geht“. Es gibt hier zwei große Hebel: Zum einen die fachärztliche Leitung: Laborergebnisse werden durch medizinisch-technisches Fachpersonal sowie mehrere Ergebnisse zusammen als Befund werden von Fachärzt:innen im Labor bewertet, die auch die in der direkten Patientenversorgung zuständigen Ärzt:innen von der Indikationsstellung eines Labortests bis zur Therapieentscheidung beraten. Zum Zweiten unterliegen wir als fachärztliche Labore in Deutschland einer rigorosen Qualitätskontrolle: Wir führen mehrfach am Tag Qualitätskontrollen durch, haben verpflichtende externe Qualitäts-Checks – und können unsere Leistungen nur abrechnen, wenn wir diese auch bestehen.

© Laborartzpraxis Rhein-Main Magazin Labor erleben ALM

Zurück zu den „lauten“ und „leisen“ Krankheiten. Sind die „leisen“ weniger schlimm?
Leider nein. „Leise“ Krankheiten sind die, die sich schleichend entwickeln und oft jahrelang unbemerkt bleiben. Darum werden beispielsweise im Rahmen des „CheckUp-35“, also dem Gesundheits-Check ab 35 Jahren, routinemäßig Blut und Urin untersucht. Diese Laboruntersuchungen helfen, häufige Volkskrankheiten wie Diabetes und Fettstoffwechselstörungen frühzeitig zu erkennen.

Das Heimtückische an diesen Krankheiten ist, dass zwar häufig keine Symptome auftreten, sie dem Körper aber dennoch schwere Schäden zufügen können. Eine fachätzliche Labordiagnostik hilft, Auffälligkeiten zu erkennen und eine entsprechende Behandlung – oder eine Änderung des Lebensstils – auf den Weg zu bringen. Das ist für die Betroffenen buchstäblich lebenswichtig, denn nur so können Folgeschäden wie beispielsweise Herzinfarkt und Schlaganfall verhindert werden.

Immer wieder hört man den Satz „Nieren sterben leise“. Was lässt sich hier tun?
Ja, tatsächlich bleibt die chronische Nierenerkrankung (CKD) oft lange unbemerkt – und das ist tragisch, denn im schlimmsten Fall droht irgendwann ein endgültiges Nierenversagen. Die Folge: Lebenslange Dialyse oder eine Organtransplantation. Der Diabetiker merkt nicht, dass die Kapillarknäulchen in der Niere geschädigt werden und er anfängt, Eiweiß zu verlieren. Hier kommen wir als Labore ins Spiel: Wir können anhand des Albumins, einem Eiweißmolekül im Urin, feststellen, wie es der Niere geht – das Albumin in hier ein wichtiger Parameter, er kann sehr frühzeitig ein „Fenster zu den Gefäßen“ sein. Wird auf diesem Wege eine Nierenschädigung erkannt, kann eine Progressionshemmung auf den Weg gebracht werden. Anders gesagt: Ein schweres Leiden kann durch eine Laboruntersuchung frühzeitig erkannt und im Fortschreiten dann therapeutisch aufgehalten werden – und darum plädiere ich dafür, im Rahmen des „CheckUp-35“ standardmäßig auch den Nierenwert Kreatinin zu untersuchen. Aber auch weitere andere Laborparameter können in Bezug auf die anderen ebenfalls wichtigen Organe wie Leber, Schilddrüse und Herz sehr sinnvoll zur laborärztlichen Früherkennung von Erkrankungen eingesetzt werden.

Sie sind Internist und Labormediziner. Verbringen Sie den ganzen Tag im Labor?
Nein, ein großer Teil der laborärztlichen Arbeit besteht darin, die einsendenden Kolleg:innen bei der Analyse der Befunde – und dem Finden einer geeigneten Therapie zu beraten. Entsprechend sind wir als Laborärzte im Austausch mit verschiedenen medizinischen Fachrichtungen. In der Labormedizin laufen viele Fäden zusammen, wir arbeiten sehr interdisziplinär. Immer wieder kommt es auch vor, dass wir Patient:innen direkt mit betreuen, wenn sie zusätzliche Beratung zu den Laborbefunden als wichtig erachten.

Und schließlich tragen wir mit der „Antibiotic Stewardship“ als Labormediziner im ärztlichen Fachgebiet der Mikrobiologie dazu bei, den verantwortungsvollen und gezielten Einsatz von Antibiotika in Krankenhäusern und Praxen zu fördern, um unnötige oder falsche Antibiotikatherapien zu vermeiden und Resistenzen einzudämmen. Die Labormedizin liefert die Datenbasis und Expertise, um Antibiotika gezielt, wirksam und nachhaltig einzusetzen.

 

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