zum Hauptinhalt
ANZEIGE

„KI ersetzt uns nicht – sie macht uns besser“

Labormediziner Michael Müller über Chancen und Grenzen künstlicher Intelligenz, warum Datenstrukturen entscheidend sind – und wieso trotz Hightech der Mensch unersetzbar bleibt.
 

Herr Dr. Müller, Sie sind Geschäftsführer des Labor 28. Jede sechste Blutprobe aus Berlin wird in Ihrem Labor untersucht. Jetzt kommt KI – bangen Ihre 300 Mitarbeitenden um ihre Jobs?
Nein, denn bei uns – und auch in den vielen anderen fachärztlichen Laboren, die der Verband ALM e. V. vertritt – gehören Digitalisierung und KI schon heute zum Alltag. Hier bei uns im Labor 28 werden Tag für Tag bis zu 35.000 Röhrchen mit Blut von bis zu 13.000 Patientinnen und Patienten untersucht. Das gelingt nur mit einer ausgeklügelten Logistik und dadurch, dass eine Vielzahl an Prozessschritten digitalisiert und automatisiert sind. Und zu Ihrer Frage: Nein, der Mensch im Labor ist nicht ersetzbar, auch nicht in einem High-Tech-Labor wie dem unseren. Denn auch hier werden trotz aller innovativer Technologie jeden Tag noch viele Dinge manuell durchgeführt, so werden beispielsweise rund 300 Proben von erfahrenen Medizinischen Technologinnen und Technologen für Laboratoriumsanalytik (MTL) unterm Mikroskop auf das Vorhandensein von Leukämiezellen hin untersucht. Hier ist der Mensch noch der Software, die wir auch für die Bilderkennung einsetzen, überlegen.

Die Labormedizin hat innerhalb der Ärzteschaft eine Vorreiterrolle – schon 2016 haben Sie eine eine eHealthAgenda auf den Weg gebracht. Wie blicken die fachärztlichen Labore auf die aktuelle Debatte um KI in der Medizin?
KI ist kein Ersatz, sondern ein wichtiges Werkzeug zur Unterstützung in der Medizin und so auch von Diagnostik. Für uns ist klar: Es braucht klare Standards, Transparenz zur Architektur der eingesetzten Software und Rahmenbedingungen, damit KI in der Routine einsetzbar wird. Vieles ist bereits implementiert, manches benötigt noch weitere Diskussion, etwa bei der Umsetzung des AI-Acts und die In-Vitro-Diagnostik-Richtlinie der EU. Eine zentrale Rolle im Umgang mit großen Datenmengen spielen Zulassung und Datensicherheit – und genau hier sind wir als fachärztliche Labore gut aufgestellt: Wir unterliegen schon jetzt einer strengen Kontrolle über das Kritis-Dachgesetz und die nun erfolgende Umsetzung der europäischen NIS2-Richtlinie. Und auch insgesamt ist das Labor vielen Regelungen unterworfen. So bekommen wir als Labor unser Geld nur, wenn wir Qualitätssicherungsmaßnahmen nachweisen können. Wir haben also einen inneren Druck, stets und immer bestmögliche Qualität zu liefern. 

Schauen wir auf Digitalisierung im gesamten Gesundheitswesen: Wie lautet Ihr Befund?
Das deutsche Gesundheitswesen galt lange als Digitalisierungswüste – Faxe, Briefe, Papier. Auch hier im Labor werden noch immer für 30 Prozent der Proben Überweisungsscheine gescannt und dann teilweise von Hand abgetippt– ja, das ist tatsächlich noch immer so. Der Grund dafür ist, dass noch nicht alle die digitale Anbindung ans Labor nutzen. Die Telematik-Infrastruktur ist in der ambulanten Versorgung ist weiterhin eine Baustelle – hier sollte sich dringend etwas tun, damit es eine echte Interoperabilität zwischen den Praxen und den Facharztlaboren gibt!

Ganz generell gilt: Die Kluft zwischen dem, was in Praxen und Kliniken passiert und dem, was in immer mehr Unternehmen längst Gang und gäbe ist, wird tiefer und tiefer. Das liegt daran, dass die Verantwortlichen aus Politik, Selbstverwaltung und Kostenträgern jahrelang um Lösungen gerungen haben und sich erst spät um das Thema gekümmert haben. Die einen schauen nach Estland oder Dänemark und fragen sich, warum wir nicht auch schon seit 20 Jahren elektronische Patientenakten haben – und die anderen fokussieren sich eher auf Bedenken rund um Privatsphäre und Datenschutz. Das Bedauerliche ist, dass in diesem politischen Gerangel eines auf der Strecke zu bleiben droht: Die qualitativ hochwertige medizinische Versorgung zum Nutzen und Wohle der Patientinnen und Patienten, wie wir sie gewohnt sind. Die Digitalisierung ist auch ein wichtiges Instrument, um die Versorgung in der Fläche weiterhin zu gewährleisten, denn dort, wo Lücken entstehen, kann die Vernetzung und Telemedizin helfen, wenngleich sie natürlich nicht den direkten und persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt ersetzen kann.

© ALM_axentis

Dr. med. Michael Müller ist seit 2012 Geschäftsführer der Labor 28 MVZ GmbH. Er ist niedergelassener Facharzt für Laboratoriumsmedizin, seine fachliche Spezialisierung liegt auf dem Gebiet der Immunologie. 
Michael Müller ist 1. Vorsitzender des ALM e. V.

Lange lief die Digitalisierung des Gesundheitssystems allenfalls im Ruhepuls. Jetzt aber nimmt sie an Tempo auf: e-Rezept und ePA sind für über 70 Millionen gesetzlich Versicherte Realität…
… und das ist auch gut so! Als ALM e. V. begrüßen wir die ePA sehr. Die Daten in der ePA müssen so strukturiert werden, dass man damit arbeiten kann. Laborbefunde, Notfallbefunde und Früherkennungshefte wie den Mutterpass an einem Ort – das ist etwas, das jetzt schnellstmöglich folgen sollte. Wir arbeiten mit allen Beteiligten mit Hochdruck daran, dieses komplexe Thema zeitgerecht und erfolgreich umzusetzen. Hier ist schon viel erreicht.

Jenseits von ePA und e-Rezept gibt es aber nach wie vor eine Reihe an Baustellen – sie alle aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Klar ist aber: Die Digitalisierung des Gesundheitssystems bleibt eine Mammutaufgabe. Was es so komplex macht, sind die vielen Beteiligten, die komplexen Entscheidungsfindungsprozesse – und die Tatsache, dass technologische Innovation sich tagtäglich weiterentwickelt. Was in einem, in zwei oder in fünf Jahren passiert, ist nur schwer vorauszusehen – das gilt ganz besonders mit Blick auf generative KI und deren Disruptionspotenzial. Insofern ist es wichtig, gerade hier wachsam zu sein, die Entwicklungen proaktiv zu begleiten und den Nutzen von Künstlicher Intelligenz kontinuierlich zu prüfen und dann auch in der Versorgung umzusetzen. Das geschieht ja bereits in vielen Fachgebieten der Medizin.

Wie kann ein solches Disruptionspotenzial für die Labormedizin aussehen?
Die in der ePA gesammelten Daten eröffnen der medizinischen Versorgungsforschung neue Möglichkeiten, auch durch den Einsatz von generativer KI. ePA-Daten können echte Mehrwerte für Patientinnen und Patienten liefern, etwa wenn per Datenanalyse Frühwarnzeichen für potenzielle Erkrankungen erkannt werden. Strukturierte, standardisierte Daten sind das Sine-qua-non, denn mit ihnen lässt sich aktuell noch besser und zielgerichteter arbeiten als mit unstrukturierten Daten.

Bei uns im Labor laufen alle Patientendaten in einer Akte zusammen: Anhand der digital gespeicherten Patientenakten und können wir Auffälligkeiten erkennen. KI kann uns dabei helfen, Konstellationen auszuwerten und Schlüsse zu ziehen. So lassen sich beispielsweise seltene Erkrankungen unter Umständen besser und frühzeitiger erkennen. Für die Betroffenen ist das kein „Nice to have“, sondern unter Umständen eine Frage des Überlebens. Wir schauen uns daher stets die Entwicklungen auf dem Gebiet an und prüfen den Nutzen für die Versorgung.

 

Bleiben wir beim Thema Daten: Was sind für Sie als Labormediziner die drängendsten „to dos“?
Es beginnt damit, dass wir einheitliche, verbindliche Schnittstellen brauchen zwischen den verschiedenen Akteuren – das Zauberwort hier lautet medienbruchfreie Interoperabilität. Und es muss sichergestellt werden, dass die Telematikinfrastruktur die Datenvolumina, die auf sie zukommen, auch bewältigen kann. In Deutschland werden jedes Jahr allein einige hundert Millionen Laborbefunde gemacht – da kommt wirklich was zusammen!

Big Data und KI eröffnen neue Chancen, gehen aber auch mit Risiken einher: Systeme müssen vor feindlichen Angriffen geschützt werden. Wie schaut die Labormedizin auf das Thema Cybersicherheit?
Als fachärztliche Labore sind wir je nach Größe Teil der kritischen Infrastruktur – auch wenn manche das erst während der Corona-Pandemie realisiert haben. Genau wie Stromnetze oder Verkehrswege sind wir systemrelevant, arbeiten auch an Feiertagen und versorgen auch entlegenste Regionen. Ohne Labordiagnostik können eine Vielzahl von Diagnosen nicht gestellt werden. Im Krankenhaus und zunehmend auch in der ambulanten Versorgung sind rasch verfügbare Laborbefunde enorm wichtig. Entsprechend unterliegen wir den einschlägigen Regeln, etwa der BSI-Kritis-Verordnung und der entsprechenden Gesetzgebung. Diese umzusetzen, geht mit einem erheblichen finanziellen Aufwand einher, der im Grunde genommen aber gemeinwohlrelevant ist und nicht an den Laborbetreibenden allein hängen bleiben sollte. 

Mehrere hundert Millionen Laborbefunde im Jahr – können wir uns angesichts der Schieflage bei den Krankenkassen das überhaupt noch leisten? Kann KI helfen, diese Zahl zu senken?
Der Schlüssel liegt hier in der Qualität der Indikationsstellung, d.h. in der Auswahl der für eine bestimmte medizinische Fragestellung sinnvollen und erforderlichen Laboruntersuchungen. Dazu dient die Beratung zwischen behandelnden Ärztinnen und Ärzten und den Fachärztinnen und -ärzten im Labor. Es gibt sicher auch Laboruntersuchungen, die aus medizinisch-ärztlicher Sicht nicht erforderlich wären und wo sich Rationalisierungsreserven heben ließen. Aber de facto haben wir eher eine Fehlversorgung und auch Unterversorgung – d.h. Fälle, in denen dringend notwendige Laboruntersuchungen nicht gemacht werden, mit teils fatalen Folgen für die Betroffenen. Wer an Labordiagnostik und Früherkennung spart, dem droht langfristig bei zu spät erkannten behandelbaren Erkrankungen auch eine Kostenexplosion. Darum plädieren wir dafür, Software zu nutzen, um anhand von vorhandenen Daten Über-, aber auch Unter- und Fehlversorgung zu identifizieren – und zu vermeiden. Das nützt den Kassenfinanzen und damit den Versicherten, stellt aber auch sicher, dass die Laborversorgung auf dem gewohnt hohen Niveau erhalten werden kann.

Mehr erfahren über KI in der Labormedizin? Das Thema wurde im Rahmen einer Paneldiskussion auf dem Hauptstadtkongress 2025 vertieft – hier geht es zum Video.

 

Vorherige Seite                   Nächste Seite

Artikel teilen